Ethik und Liturgie - Politik und Predigt

12 Fragen an Marco Hofheinz, Hannover

Marco Hofheinz © privat

Im Interview mit reformiert-info analysiert der Theologieprofessor Marco Hofheinz die Ethik in der Feier eines Gottesdienstes.

Als Ethiker, nicht als Liturgiker, sind Sie unseren Leserinnen und Lesern mit Ihrem Text zur Narrativen Ethik bekannt. So waren wir etwas überrascht, Sie als Autor in einem Buch zum Gottesdienst zu entdecken.

Hofheinz: Ich war selbst überrascht, als mir der enge Bezug zwischen Ethik und Liturgie aufging. Das war allerdings weniger meine originäre Entdeckung. Vielmehr bin ich während meines Studiums in Amerika darauf gestoßen worden. Stanley Hauerwas und Geoffrey Wainwright haben mich vor vielen Jahren je auf eigene Weise an der Duke University in North Carolina darauf aufmerksam gemacht und mir gezeigt, dass man im Grunde allen liturgischen Stücken einen Topos der Ethik zuordnen kann. Im Band „Blackwell Companion to Christian Ethics“ (2004) ist dies später dann umgesetzt worden. Dort fungiert der Gottesdienst-Ablauf regelrecht als organisierendes Prinzip eines Ethiklehrbuches.

Wie kommt denn die Ethik in den Gottesdienst?

Hofheinz: Ich frage mich: Muss sie tatsächlich erst hineinkommen? Ist sie nicht in gewisser Weise bereits darin enthalten? Versteht man unter theologischer Ethik die Reflexion auf das Ethos und die Moral der Gemeinschaft von Menschen, die im Raum von Kirche angesiedelt ist, so dürfte klar sein, dass der Gottesdienst diese Gemeinschaft in ihrem Ethos und ihrer Moral prägt. Bernd Wannenwetsch hat vom „Gottesdienst als Lebensform“ gesprochen. In der Tat werden wir im Gottesdienst in-formiert – d.h. geformt und geprägt hinsichtlich unseres Handelns und Urteilens als Christenmenschen. Damit wird nicht nur ein individuelles Geschehen in den Blick genommen, sondern im Gottesdienst formiert sich die Gemeinde als gottesdienstliche Gemeinde. Sie stellt auch einen sozialen Lebenszusammenhang dar. Sie versucht, mit dem, was sie im Gottesdienst tut, mit Gottes Handeln und Urteilen übereinzustimmen*.

Könnten Sie diese Zusammenhänge noch etwas anschaulicher machen?

Hofheinz: Nehmen wir die konkrete Gottesdienstfeier in ihrem Ablauf gemäß Grundform II nach dem „Evangelischen Gottesdienstbuch“, den sog. oberdeutschen Prädikantengottesdienst. Er beginnt in „Eröffnung und Anrufung“ (A) mit dem Glockengeläut, das einlädt. Entsprechend wird theologische Ethik als „einladende Ethik“ (Georg Plasger) im Blick auf die Öffentlichkeit zu konzipieren sein. Das Eingangsvotum verweist auf das Ethos der Anrufung des dreieinen Gottes, das Singen auf den Lobpreis Gottes als den Sinn unseres Daseins – dem „chief end of man“, wie es zu Beginn der Westminster Confession (1647) heißt, nämlich „to glorify God and to enjoy him forever“. Und hinsichtlich des Gebets hat Karl Barth zu Recht gelehrt, dass es um den Grundakt des christlichen Lebens geht.

Danach wird es aber im Gottesdienstablauf doch mit den Zuordnungen zur Ethik schwieriger – oder?

Hofheinz: Nicht unbedingt. Im Teil „Verkündigung und Bekenntnis“ (B) wird mit der Schriftlesung die Frage relevant, wie die Bibel eigentlich in die Ethik kommt und ob es etwa möglich ist, zu einer biblischen Begründung ethisch relevanter Urteile zu gelangen. Dass des Weiteren das Bekennen ethisch bedeutsam ist, muss man wohl keinem reformierten Christenmenschen demonstrieren. Zu sehr hat uns Reformierte das Problem des status confessionis beschäftigt.
Mit der Sammlung für die Diakonie und überhaupt der Kollekte sind elementare wirtschaftsethische Zusammenhänge berührt. Und hinsichtlich der Predigt ist das Problem der Ethik und insbesondere der Politik auf der Kanzel ebenfalls bekannt. Zum Abschluss des Gottesdienstes erfolgen „Fürbitte und Sendung“ (C), wobei im Dank- und Fürbittengebet gleichsam alle Topoi der Ethik nochmals aufgegriffen werden können. Und schließlich formuliert der aaronitische Segen die Friedensbitte und schlägt damit den Bogen zum Friedensethos.

Und wie steht's mit der Ethik bei Abendmahl und Taufe?

Hofheinz: Von den Sakramenten muss ich hier gar nicht reden, die in ethischer Hinsicht nochmals ihre eigene Dignität haben. Man denke etwa an das Teilen und Teilhaben beim Abendmahl (unabhängig von Geschlecht, Rasse, Einkommen etc.) oder die Taufe als die Begründung des christlichen Lebens, des Seins in Christus, von dem es in Gal 3,28 heißt, dass hier nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau sind. Das ist u.a. im Blick auf eine Ethik der Geschlechtlichkeit eine wegweisende Aussage.

Bleiben wir doch einen Moment bei der politischen Predigt. Mit dem Stichwort politische Predigt assoziiere ich als erstes Linksprotestantismus. Entspricht diese Verbindung der Realität?

Hofheinz: In der Tat wurde der Begriff „Politische Predigt“ oft als eine Programmformel gebraucht, die man gerne mit dem Linksprotestantismus in Verbindung brachte und immer noch bringt. Der Begriff avancierte dementsprechend zu einem Reizwort, das polarisierte. Inzwischen hat sich, so hoffe ich zumindest, die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Predigt nicht nicht politisch sein kann. Selbst wenn sie den Anspruch hat, unpolitisch zu sein, wirkt sie eminent politisch – und zwar indem sie den status quo stabilisiert. Es kommt indes darauf an, wie man politische Themen aufgreift und auf der Kanzel zum Gegenstand der Verkündigung macht, ob man etwa den Unterschied zwischen der eigenen subjektiven Meinung als Predigerin oder Prediger und der Verbindlichkeit von Glaubensaussagen kenntlich macht. In dieser Hinsicht kann man übrigens etwas von den vielgescholtenen Linksprotestantinnen und -protestanten lernen.

Inwiefern?

Hofheinz: Helmut Gollwitzer betont etwa, dass die oder der Predigende auf der Kanzel so realitätsnah wie nur möglich aus dem Text die Kriterien und Maßstäbe zu entwickeln habe, von denen Christenmenschen sich in ihrem politischen Verhalten leiten lassen sollen. Von der politischen Predigt auf der Kanzel will Gollwitzer die politische Predigt unter der Kanzel unterschieden wissen, die weniger auf Handlungsorientierung, als vielmehr im geschwisterlichen Diskurs auf konkrete Handlungsanweisung abzielt: Unter der Kanzel und nicht auf der Kanzel ist also kundzutun, wie die eigene Antwort der Predigerin oder des Predigers in den betreffenden Fragen aussieht. Dort wird sie oder er in ein geschwisterliches Gespräch eintreten und fragen, ob und ggf. wie die Geschwister anders antworten können.

Wie geht das: Politisch zu predigen, ohne die Moralkeule zu schwingen?

Hofheinz: Ich denke, dass dies in der Tat eine große Herausforderung für jede Predigerin und jeden Prediger ist. Es kann gelingen, wenn nicht auf argumentative Begründung und rationale Kommunikation verzichtet wird. Ein hilfreiches Instrumentarium ist dabei immer noch das Urteilsschema von Heinz Eduard Tödt. Sein methodisches Verfahren umfasst sechs Schritte: die Problemwahrnehmung, Situationsanalyse, Verhaltensoptionen, Prüfung von Normen, Güter und Perspektiven im Blick auf Verhaltensoptionen, Verbindlichkeitsprüfung und Urteilsentscheid als Verknüpfung der vorangehenden Schritte 1-5. Man kann dieses Schema – und m.E. empfiehlt sich dies für die Predigt – im Anschluss an Dietrich Ritschl nochmals elementarisieren.

Wie würde dann der Aufbau einer politischen Predigt aussehen?

Hofheinz: Folgende Struktur drängt sich nach dem elementarisierten Schema auf:
1. Wahrnehmen: Worin besteht überhaupt das im Bereich des Politischen angesiedelte ethische Problem und warum ist es ein spezifisch ethisches? Des Weiteren: Wie ist die Situation, der Kontext beschaffen, in der sich dieses Problem stellt? Welche Verhaltensalternativen gibt es im Blick auf politische Entscheidungen?
2. Prüfen: Wie bzw. nach welchen Kriterien lässt sich das Problem beurteilen? Aus welcher Perspektive auf die Wirklichkeit werden Maßstäbe gewonnen? Welche Normen sind für die Wahl zwischen Verhaltensalternativen heranzuziehen?
3. Urteilen: Was soll gelten, damit ein Urteil verbindlich ist? Wie sind die vorangehenden Schritte 1 und 2 hinsichtlich eines Urteils zu verbinden?

Wird eine Predigt dann nicht arg schematisch?

Hofheinz: Das verstehe ich. Vielleicht hilft die Beobachtung, dass das Urteilsschema in seiner elementarisierten Form den tragenden Bestandteilen des in der Homiletik äußerst beliebten lernpsychologischen Aufbaumodells entspricht. Du erinnerst Dich vielleicht an die HB-Männchen-Werbung, anhand derer Peter Bukowski in seiner Predigtlehre dieses 5-Phasen-Modell erläutert. Nach der Motivationsphase erfolgt die Problemabgrenzung, die im Urteilsschema der Wahrnehmung des Problems entspricht. Die 3. Phase von „Versuch und Irrtum“ entspricht dem Prüfen der Beurteilungs- und Handlungsmöglichkeiten und die 4. Phase des „Lösungsangebots“ dem Urteilen bzw. Entscheiden über Verhaltensweisen. Die Leistungsfähigkeit dieses Vorschlags, die politische Predigt anhand des elementarisierten Urteilsschemas und damit implizit des lernpsychologischen Aufbaumodells zu entfalten, besteht er darin, dass das Abgleiten in die Gesetzlichkeit des Appellativen verhindert wird. Wer die politischen Predigt entlang dieses Dreischritts entwickelt, der tut nämlich genau das, was vielen politischen Predigten fehlt: Er oder sie argumentiert. Mehr noch: Er oder sie entfaltet die Argumentation als einen Lernweg und bahnt somit einen Lernprozess anhand dieses Dreischritts an, der einem lernpsychologischen Grundmuster folgt.

Das hört sich recht nüchtern an. Soll eine Predigt nicht auch zu Herzen gehen?

Hofheinz: Ja, das soll sie in der Tat. Mein Vorschlag zugunsten einer argumentativen politischen Predigt wäre missverstanden, wenn er im Sinne eines Plädoyers für die reine Argumentation und nichts als die reine Argumentation verstanden würde. Die politische Predigt sollte auch an diesem Punkt nicht gesetzlich werden. Insbesondere erzählerische Elemente können im Dienste einer Argumentation stehen, indem Erzählungen etwa Modelle, d.h. konkrete Musterfälle eines Ethos liefern, die veranschaulichen, illustrieren und der politischen Predigt somit Konkretheit und Plastizität jenseits jener gesetzlichen Allgemeinheit bloßer Appelle liefern. Auch die Erzählung kann im Rahmen der Argumentation einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die Ethik auf angemessene Weise in die politische Predigt kommt.

Damit sind wir wieder bei der narrativen Ethik. Noch eine andere Frage: Die geistliche Kompetenz eines Bischofs sei „in aller Regel nicht identisch mit einer besseren ethischen Einsichtsfähigkeit“, meint Friedrich Wilhelm Graf und fragt deshalb kritisch an, mit welchem Anspruch sich ein Bischof zu politischen Fragen äußere (Interview mit Zeitzeichen im Januar 2014). Was sagen Sie dazu?

Hofheinz: Ich denke nicht, dass geistliche Kompetenz automatisch an ein Amt gebunden ist, wenn anders es durchaus wünschenswert ist, dass ein Mensch in einem geistlichen Amt – wie etwa ein Bischof – auch geistliche Kompetenz besitzt. Die Vorstellung vom character indelebilis (untilgbaren Prägemal), das im Weihesakrament verliehen wird, teilen wir Reformierten jedenfalls nicht mit unseren römisch-katholischen Geschwistern. Und wer meint, dass der Bischof aufgrund eines solchen Prägemals bessere ethische Einsichtsfähigkeit besitzt, erntet zu Recht Kritik. Nichtsdestotrotz sind Menschen im Predigtamt auch Politikerinnen und Politikern schuldig zu sagen, wo sie Unrecht tun und verkehrt handeln. Auch Politikberatung – erfolgt sie ehrlich – wird dies einschließen müssen. Luther hat diese Aufgabe des Predigtamtes stark hervorgehoben* und war sich übrigens völlig darüber bewusst, dass dies den Vorwurf provoziert, es führe zum Aufruhr, wenn man die Mächtigen kritisiert. Im Blick auf die Fürsten und Mächtigen sagt Luther, dass sie es zwar ertragen könnten, dass man die ganze Welt kritisiert, wenn sie nur unkritisiert bleiben würden. Es gehört zur Parrhesia, zum offenen Freimut, der übrigens auch eine politische Tugend ist, diesen Dienst an der Gemeinde, an der Welt und am Nächsten, der auch Politikerin oder Politiker sein kann, zu tun. Das ist etwas ganz anderes als billige Politikschelte.

Vielen Dank für das Interview.

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Marco Hofheinz, Prof. Dr., 2011 - 2012 Studierendenpfarrer in Siegen, seit 2012 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik am Institut für Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover; www.ithrw.uni-hannover.de/marco_hofheinz.html