Der Herr behütet deine Ausgang und Eingang

Predigt zu Psalm 121, 7+8

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Die Prädestinationslehre wird Thema anlässlich der Taufe eines körperlich und geistig stark behinderten Kindes.

Liebe Gemeinde,

der Taufspruch von Emma – vielleicht ist es Ihnen aufgefallen – ist nicht als Wunsch, sondern als Tatsache formuliert:

„Der Herr behütet dich vor allem Bösen,
er behütet dein Leben.
Der Herr behütet deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit.“

Und genau so glauben wir das auch. Und genau aus dem Grund taufen wir auch Kinder. Weil es mehr ist als ein Wunsch. Weil wir uns sicher sind, dass es so ist, dass Gott unsere Kinder liebt. Dass er uns liebt. Wir gebrauchen dieses Zeichen, das Fließen des Wassers, das Sakrament der Taufe, um es für uns Menschen sichtbar zu machen, was ansonsten reine Theorie bliebe.

Wir taufen auch Kinder, die was den Glauben angeht, keinen eigenen Willen haben. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Wir taufen auch ein Kind wie Emma, der wir nach unseren Maßstäben nicht erklären können, was es mit dem Glauben auf sich hat. Und das, obwohl wir Reformierten auch nicht glauben, dass wir mit der Taufe etwas Magisches tun, was die Emma nun irgendwie verzaubert, ihr einen Schutzschild verpasst oder Ähnliches. So schön das wäre, wenn es funktionieren würde. Es wäre doch allzu sehr die Erfüllung eines Menschentraumes, sich vor allem Unglück schützen zu können. Nein, es bleibt dabei: Die Taufe ist nichts Anderes, als dass wir ein Zeichen der Liebe Gottes setzen. Ein Zeichen dafür, dass Gott Emma kennt und ihr Leben begleitet und behütet und alle ihre Wege mitgeht. Anders gesagt: Die Taufe ist ein Zeichen dafür, dass Gott Emma „erwählt“ hat.

Damit sind wir bei einem Thema, das in diesem Jahr Konjunktur hat, weil es von Johannes Calvin ins Spiel gebracht worden ist. Er hat eine ausgefeilte Erwählungslehre formuliert wie vor ihm kein anderer. Aber es ist auch ein Thema, das uns unabhängig von Jubiläen und großen Namen interessieren kann – ja interessieren sollte. Dass Menschen von Gott erwählt werden bzw. längst vor ihrer Geburt erwählt worden sind, das ist eine Vorstellung, die uns erst einmal fremd ist. Noch mehr, wenn wir den logischen Umkehrschluss ziehen, dass es dann ja wohl auch Menschen geben muss, die nicht erwählt sind.

Für diese „Prädestinationslehre“, wie sie lateinisch genannt wird, hat Calvin schon zu Lebzeiten viel Kritik einstecken müssen. Und seine Nachfolger haben zum Teil den Sinn verdreht und damit dem Ruf Calvins erheblichen Schaden zugefügt. Man kann sich leicht denken, dass wenn einer von „Erwählung“ spricht, er in den Verdacht gerät, dass er zunächst sich selbst für erwählt hält und wahrscheinlich seine Kumpanen, seine Gemeinde, seine Kirche oder sein Volk. Also dass es in irgendeiner Weise um eine Vormachtstellung geht, die jemand für sich beansprucht. Und dieser Verdacht ist auch nicht ganz unbegründet.

In der Folge Calvins ist nämlich genau das auch geschehen – immer wieder bis heute – auch von Reformierten. Das bekannteste Beispiel sind die Weißen in Südafrika gewesen, die sich gegenüber den Schwarzen als das „erwählte“ Volk fühlten. Und trotzdem halte ich diese Gedanken Calvins zur Erwählung für sinnvoll. Und ausgerechnet die Taufe von Emma ist ein guter Anlass, in dieses komplizierte Thema einzusteigen und es vielleicht – ich hoffe es – verständlich zu machen. Denn eigentlich hat der Gedanke, so wie ihn Calvin fasst, nichts mit Arroganz zu tun, wohl aber mit Trost.

Ich setze noch einmal da an, wo ich vorhin eingestiegen bin: Wir taufen Emma und andere Kinder, weil wir den Glauben für ein Geschenk Gottes halten. Ein Geschenk, das uns nicht zusteht, es zu verweigern oder von uns aus zu verschenken. Wir geben das Zeichen für Gottes Liebe weiter, weil Gott selbst das so will. Wir können den Glauben an Gott weder herzaubern noch zurückhalten. Wir können von Gott erzählen, können unseren Kindern so vorleben, dass sie eine Idee davon bekommen, wer Gott ist und wie Gott zu uns Menschen ist.

Aber den Glauben können wir nicht bewirken – auch nicht bei einem Erwachsenen, indem wir ihn überreden oder überzeugen. Das was den Glauben ausmacht, was ihn von einem Parteiprogramm oder einer Philosophie unterscheidet, das kommt von Gott selbst. Das ist eine – ja vielleicht sogar die – Erkenntnis der Reformation, dass wir Menschen nicht von uns aus glauben, sondern den Glauben von Gott geschenkt bekommen. Genau wie die Gnade, die wir uns nicht durch Leistungen erkaufen können, sondern von Gott geschenkt bekommen. Das heißt: Er entscheidet, ob wir gläubige Menschen sind oder nicht. Er entscheidet, ob wir das Zeichen der Taufe zu Recht empfangen haben oder nicht.

Bis zu diesem Punkt ist das noch gar nichts speziell Calvinistisches. Obwohl es doch auch schon ungeheuerlich ist: Wir Menschen haben so gesehen was den Glauben angeht, gar keinen freien Willen. Und in der Tat hat genau das, dass der Mensch keinen freien Willen hat, Martin Luther explizit ausgeführt. Johannes Calvin hat diesen Gedanken aufgenommen und weitergespielt und ihn auch auf den Rest des Lebens ausgeweitet. Und so hat der Mensch für ihn überhaupt im Leben nicht die Entscheidungsfreiheit das eine oder andere zu tun. Und es gibt auch kein Schicksal, keinen Zufall, sondern alles ist – so wie es passiert – von Gott so vorgesehen.

Liebe Gemeinde, an diesem Gedanken kann man verrückt werden. Man kann sich in dieses Bild so vertiefen, dass man sich lediglich als Marionette in einem göttlichen Spiel fühlt. Auch in anderer Weise kann man an diesem Gedanken verrückt werden, indem man das eigene Lebensglück, die eigenen Leistungen, den eigenen Reichtum als Gottes Fügung empfindet. Die Lehre von der Vorsehung und der Erwählung ist also durchaus gefährlich und missverständlich. Gemeint hat sie Johannes Calvin aber anders. Er hat die Vorstellung, dass alles in unserem Leben von Gott vorgesehen ist, tröstlich gemeint. Er hat das Menschen gepredigt, die in großer Not waren, die unter Verfolgung litten oder auf der Flucht waren.

Diesen Menschen, die Calvin vor Augen hat, fehlte die Fügung Gottes in ihrem Leben. Sie hatten das Gefühl, dem Schicksal ausgeliefert zu sein. Wegen ihres Glaubens an die Freiheit wurden sie verfolgt und viele auch getötet. Ihnen gab die Vorstellung, dass ihre Lebensgeschichte in einem großen Buch bereits aufgeschrieben ist, Geborgenheit. Sie fanden es tröstlich, dass Gott das, was sie erleben mussten, für sie vorgesehen hatte. Es gab ihrem Leiden einen Sinn. Sie wussten wieder, wofür sie das alles durchmachten.

Nun ist klar, dass wir heute in einer anderen Situation sind. Von Verfolgung und Flucht keine Spur. Vielleicht in der einen oder anderen Lebenssituation geht es uns vergleichbar schlecht. Aber oft haben wir doch eher Grund, für unser Schicksal dankbar zu sein. Wenn wir an so etwas wie Erwählung und Vorsehung glauben sollen, darf es natürlich nicht nur in bestimmten Situationen gelten. Es muss schon der Prüfung in allen Lebenslagen standhalten.

Auf der anderen Seite ist auch klar, dass in diesen Tiefen der Theologie – und da bewegen wir uns bei diesem Thema nun wirklich – dass wir in diesen Tiefen mit unserem menschlichen Verstand an Grenzen kommen. Wissen können wir gar nichts, sonst wären wir ja selbst Gott. Wir ziehen Schlüsse aus dem, was wir von Gott wissen, was Menschen für Erfahrungen machen und vor allem was in der Bibel niedergeschrieben steht.

Und da steht nichts ausdrücklich von der Prädestinationslehre. Aber viel von der Gnade und der Güte Gottes. Und auch viel von seiner Führung und Begleitung der Menschen. Und da begegnet uns ein Gott, der seine Menschen nicht ihr Leben lang sich selbst überlässt und ihrem Schicksal und dann am Ende wie ein Lehrer Noten verteilt und über die Versetzung entscheidet. Das ist ja die klassische Vorstellung von Gott, die vielen Religionen und Glaubensrichtungen zugrunde liegt. Und die auch im Christentum immer wieder die Oberhand gewinnt. Mit dem Ergebnis, dass sich Menschen zu kleinen Göttern aufspielen und meinen, sie müssten in der ihnen verbleibenden Zeit etwas Großes schaffen, um sich unsterblich zu machen.

Genau dagegen hält Calvin seine Vorsehungslehre. Sie soll uns klar machen, dass wir eine Rolle in Gottes Plan haben – nicht in unserem eigenen. Uns Menschen werden die Grenzen aufgezeigt und wir erfahren gleichzeitig, dass wir auf Gott vertrauen dürfen. Und dass immer wieder unsere Grenzen sichtbar werden, ist heute so deutlich wie damals.

Angesichts von Finanzkrise und Klimaveränderung ist es wohl nötig, dass unser Übermut gedämpft wird. Und angesichts des Terrorismus oder auch der Wertekrise in unserer Gesellschaft kann ich darauf vertrauen, dass Gott auch schon Manches zum Guten gewendet hat, wo Menschen keine Hoffnung mehr hatten. Ich hatte am Anfang gesagt, dass die Taufe von Emma eine Hilfe sein kann zu verstehen, was mit der Erwählungslehre gemeint ist. Und ich will das jetzt gerne aufnehmen: Ich glaube nämlich, dass wir wenig Probleme damit haben, Emma das so zu wünschen, wie Calvin es sagt: dass ihr Leben nach einem von Gott vorgezeichneten Weg verläuft, dass Gott ihr Leben begleitet, sie beschützt, aber auch ihren Lebensweg bestimmt. Emma hat immer wieder lebensbedrohliche Krämpfe – sie schwebt also ständig in Lebensgefahr.

Natürlich könnte man das Schicksal für ihr Ergehen verantwortlich machen. Sie selber hat es gar nicht in der Hand, kann sich selbst nicht helfen. Wir wünschen ihr mit dem Taufspruch, dass Gott ihren Ausgang und Eingang behüte. Das kann auch heißen, dass wir uns vorstellen, dass Gott ihren Lebensweg schon kennt und wir dem vertrauen dürfen, dass es gut ist, wie es auch kommt.

Gleichwohl würde niemand, der sie kennt und der sie liebt, nicht auch alles tun, um ihr Leben zu bewahren, es ihr im Leben so gut wie möglich zu machen, ihren Willen zu achten und ihr alle Liebe zu schenken. Die Vorsehung enthebt uns nicht unserer Verantwortung – ganz im Gegenteil. Auch wir haben mit allem, was wir in dieser Welt tun, eine Rolle in der Geschichte Gottes. Aber wir spielen die Rolle eben anders, wenn wir nicht gleichzeitig auch die Drehbuchautoren sind – und darauf kommt es an. Wenn wir also die Erwählungs- und die Versöhnungslehre auf uns beziehen, dann macht uns das demütig und dankbar auf der einen Seite. Aber auch mutig und engagiert.

Seit ich die Vorsehung unseres Lebens für mich so verstehen kann, habe ich außerdem noch mehr Respekt vor den Lebensläufen anderer Menschen. Was kann nicht alles passieren in einem Leben? Wie schnell kann sich alles ändern! Auch für alle, die mit Emma leben, ist es wichtig zu wissen, dass sie Emmas Leben nicht jeden Tag neu erfinden müssen. Gott hat ihr Leben so im Blick wie unser aller Leben. Er hat einen Plan mit ihr, wie er den mit jedem von uns hat. Deshalb gilt für uns alle:

„Der Herr behütet dich vor allem Bösen,
er behütet dein Leben.
Der Herr behütet deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit.“

Amen


Georg Rieger