Eine Calvin-Lesung mit Erläuterungen

von Matthias Freudenberg

''Auch ist es nirgendwo untersagt, zu lachen, sich am Klang der Musik zu freuen oder Wein zu trinken''

Der öffentliche und der private Calvin

Mit Johannes Calvin begegnet uns ein evangelischer Kopf, welcher der Reformation Impulse verliehen hat, die bis heute weiterwirken. Das gilt zunächst für die Stadt Genf, in der Calvin einen Großteil seines nur 54 Jahre dauernden Lebens als Pfarrer und theologischer Lehrer gelebt hat. Wenn heute Genf als eine Stadt gilt, die den Verbindungen der Völker und Kirchen dient, so liegt das auch an den Wurzeln. Denn in Genf entwickelte Calvin ein Verständnis von der Kirche, in der die Einheit, der Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe im Mittelpunkt standen. Doch bis es zur Neugestaltung der Genfer Kirche kam, war ein weiter Weg zu gehen. Über seine eigene Hinwendung zur Reformation berichtet Calvin erst wenige Jahre vor seinem Tod. In einer Vorrede, die er 1557 seiner Auslegung der Psalmen vorangestellt hat, lässt er seine vergangenen Lebensjahrzehnte Revue passieren. Über eine frühe Station, seinen Aufenthalt in Basel 1536, schreibt er:

„[Gott] hat mein trotz seiner Jugend schon recht starres Herz durch eine unerwartete Bekehrung zur Gelehrsamkeit gebracht. Erfüllt vom Geschmack an wahrer Frömmigkeit, entbrannte ich in einem solchen Eifer, darin Fortschritte zu machen, dass ich die übrigen Studien zwar nicht fallen ließ, wohl aber ziemlich nachlässig betrieb. Noch war kein Jahr vergangen, da kamen alle, die nach der reinen Lehre verlangten, zu mir, dem Neuling und Anfänger, um zu lernen. Von Natur aus schüchtern, habe ich die Zurückgezogenheit und Ruhe stets geschätzt und deshalb danach gestrebt, im Verborgenen zu leben. ... Während es meine einzige Absicht war, unbeachtet in Ruhe leben zu können, hat Gott mich so von Ort zu Ort getrieben, dass er mich nirgends Ruhe finden ließ, bis ich meinem Widerstand zum Trotz ins helle Licht [der Öffentlichkeit] gezogen wurde. Ich verließ mein Vaterland und reiste nach Deutschland in der Absicht, in irgendeinem verborgenen Winkel versteckt meine mir seit langem versagte Ruhe zu genießen. Doch siehe, als ich mich unerkannt in Basel verborgen hielt, wurden in Frankreich viele fromme Leute verbrannt ... Aus diesem Grund habe ich meinen Unterricht [in der christlichen Religion] geschrieben: erstens, um meine [Glaubens-]Geschwister, deren Tod in den Augen des Herrn so viel galt, gegen eine ungerechte Verleumdung zu verteidigen; zweitens, um für die vielen Verfolgten, denen dieselbe Strafe drohte, wenigstens etwas Mitleid und Anteilnahme im Ausland zu wecken.“[1]

Es ist kein Zufall, dass Calvin gerade die Vorrede zur Psalmenauslegung nutzt, um Rückschau auf sein Leben zu halten. Jeder Mensch, so Calvin, kann in den Psalmen ein Spiegelbild seiner inneren Regungen finden. Die Psalmen bieten Calvin selbst einen Rahmen, um über den eigenen Seelenzustand nachzusinnen – über Kummer, Leiden und Ärger ebenso wie über die glücklichen Momente des Lebens. In David entdeckt Calvin sein eigenes Leben und das der bedrängten Kirche wieder. Davids Erfahrungen – seine Erfolge, aber auch sein Scheitern und seine Schuld – werden Calvin zum Spiegel und Abbild seines Lebens. Dieses versteht er gleichsam als Bühne, auf der Gott Regie führt. Das Verständnis von Gott als Autor des eigenen Lebens erweist seine Kraft im Bestehen von Grenzerfahrungen. Diese erfährt Calvin vielfach, und die wohl einschneidendste biographische Zäsur war ein Geschehen im Jahr 1536, als Calvin dazu gezwungen wurde, die in den Anfängen steckende Genfer Reformation voranzubringen. Calvin schreibt über eine Reise, auf der er in Genf eine Pause zur Übernachtung einlegt:

„Ich wurde in Genf nicht in erster Linie durch einen Rat oder eine Ermahnung, sondern vielmehr durch eine furchtbare Beschwörung Wilhelm Farels festgehalten, als ob Gott vom Himmel her seine starke Hand auf mich gelegt hätte. ... Durch das Wirken dieses hervorragenden Mannes und Pierre Virets war hier vor kurzem das Papsttum abgeschafft worden. Noch aber waren die Verhältnisse ungeordnet und die Stadt in schlimme und gefährliche Parteien gespalten. Ein Mann, der nach schändlichem Abfall wieder ins Lager der Papstanhänger zurückgekehrt ist, sorgte sofort für die Offenlegung meiner Identität. Farel aber – von unglaublichem Eifer zur Verbreitung des Evangeliums beseelt – richtete alle Anstrengungen beharrlich darauf, mich dazubehalten. Als er sah, dass ich mich in aller Stille dem Privatstudium hingeben wollte, und erkannte, dass er durch Bitten nichts bei mir erreichen konnte, ließ er sich zu einem Fluch hinreißen: Gott möge meine Ruhe verwünschen, wenn ich mich in einer solchen Notlage der Hilfeleistung entziehe. Dieser Schrecken erschütterte mich derart, dass ich die begonnene Reise nicht fortsetzte.“[2]

Ob Calvin dem Drängen Farels nachgegeben hätte, wenn er damals geahnt hätte, welche Auseinandersetzungen ihm in Genf bevorstanden? Einmal spricht er davon, dass seine Widersacher sogar Hunde auf ihn gehetzt und geschrien haben: „Fass, fass!“ Viel Aufheben um seine Person macht er sonst nicht. Privates tritt in den Hintergrund, umso deutlicher werden die Konturen des Predigers, theologischen Lehrers und reformatorischen Strategen Calvin. Er schreibt:

„Wie [David] von den Schafweideplätzen fort zur höchsten Königswürde erhoben wurde, hat Gott mich aus meinen dunklen und geringen Anfängen emporgehoben und mich mit dem so ehrenvollen Amt betraut, Verkündiger und Diener des Evangeliums zu sein.“[3]

Wenige Spuren von privaten Mitteilungen finden sich in Calvins Briefen. Etwa diese: Im August 1540 heiratet er Idelette de Bure, die Witwe eines an der Pest gestorbenen ehemaligen Wiedertäufers. Darüber schreibt er seinem Kollegen und Freund Wilhelm Farel:

„Von meinen Heiratsplänen will ich nun offener reden. [...] Ich gehöre nicht zu der verrückten Art von Liebhabern, die auch die Fehler [ihrer Geliebten] preisen, wenn sie einmal von der Schönheit hingerissen sind. Das ist die einzige Schönheit, die mich anlockt, wenn sie züchtig ist, gehorsam, nicht hochmütig, sparsam, geduldig, wenn ich auch hoffen darf, dass sie zu meiner Gesundheit Sorge trägt.“[4]

Und ein Jahr später, kurz nach der Hochzeit, richtet Calvin wiederum an Farel einen Brief:

„Der Herr hat, damit unsere Ehe nicht gar zu fröhlich beginne, gleich von Anfang an unsere Freude gedämpft, dass sie das rechte Maß nicht überschreite. Am 3. September hatte ich ein dumpfes Kopfweh, ein Übel, das ich so gewöhnt bin, dass es mir nicht mehr viel macht. Am Sonntag, der darauf folgte, spürte ich, als ich in der Vormittagspredigt etwas warm wurde, dass die Säfte, die meinen Kopf eingenommen hatten, flüssig wurden. Bevor ich aus der Kirche kam, packte mich ein Schnupfen, der mit beständigem Fluss mich bis zum Dienstag ziemlich quälte. ... Als ich noch von der erwähnten Krankheit angegriffen war, fiel auch meine Frau in ein Fieber, von dem sie sich erst jetzt zu erholen beginnt.“[5]

Privates Leid begleitet Calvins Lebensweg. Seine Frau Idelette starb schon nach 9 Jahren Ehe im Jahr 1549, ihr gemeinsamer Sohn Jacques, geboren 1541, lebte nur wenige Tage.

Gottesdienst feiern, Psalmen singen, zu Gott beten

Calvin versteht die Kirche als eine lesende und hörende Gemeinschaft. Mit anderen Reformatoren teilt er die Überzeugung, dass es zu einer wirklichen Reformation der Kirche nur auf Grundlage der gelesenen und gepredigten ganzen Heiligen Schrift kommen kann. In der Vorrede für die Genfer Bibeldrucke von 1546 macht er auf den unerschöpflichen Schatz der Bibel aufmerksam. Sie ist der „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet”, ein „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten” und das „Zeugnis seines guten Willens”. Calvin schätzt die Bibel außerordentlich hoch und benennt sie als „Instrument seines Bundes”, den Gott „mit uns geschlossen hat“.[6] Durch das biblische Zeugnis seines guten Willens lockt Gott die Menschen zu sich und weckt in ihnen das Vertrauen in seine väterliche Treue. In der Predigt, die die Gemeinde zugleich trösten als auch unterrichten soll, sieht Calvin die wesentliche Grundlage zum Gemeindeaufbau. Geradezu „himmlische Weisheit“ vermitteln die biblischen Texte und leiten zum Gotteslob an.[7] Von Genf aus wuchs ein Verständnis von Kirche, das den Gaben ihrer einzelnen Glieder viel zutraut und das kollegiale Zusammenwirken der Dienste in der Gemeinde hochschätzt. Die auf Calvin zurückgehende presbyterial-synodale Kirchenordnung bietet bis heute ein kirchliches Handlungs- und Lebensmodell, das einen Rahmen dafür bietet, damit Kirche auch wirklich „Kirche der Freiheit“ sein kann. Calvin vertrat die Überzeugung, dass Jesus Christus das Haupt der Kirche ist und darum die kirchlichen Ämter und Dienste auf diesen einen Herrn hingeordnet sind. Die Kirche muss auch äußerlich als das erkannt werden, was sie ist: als Volk Gottes, als Gemein­de Jesu Christi, als Stadt auf dem Berg, als wanderndes Gottesvolk. Dass Christus in seiner Kirche allein herrschen sowie ihre Botschaft, Gestalt und Ordnung bestimmen muss, ist sein Hauptanliegen. Er legte Wert darauf, dass der Zusammenhalt der Gemeinde und ihre Einheit in den Diensten der Gemeinde sichtbar werden. Mit den unterschiedlichen Gaben, so Calvin wörtlich, „kommt die Einheit der Kirche zustande, so wie in der Musik vielfältige Töne eine wohlklingende Melodie zustande bringen“.[8] Um eine solche „wohlklingende Melodie“ in der Gemeinde erklingen zu lassen, beschreibt Calvin die Dienste der Pastoren, der Lehrer, der Presbyter und der Diakone. Diese Dienste sind Dienst an der Gemeinde, von der die Berufung in diese Dienste ausgeht. Eine solche Kollegialität im gegliederten Amt nimmt die Gaben der einzelnen Glieder ernst. Im Konzert der Dienste in der Gemeinde kommt der Verkündigung der Pastoren eine herausragende Stellung zu. Entsprechend ist der Gottesdienst der Grundakt des kirchlichen Lebens. Zu Beginn seiner Genfer Zeit schreibt Calvin:

„Es ist unser Wunsch, dass [die Psalmen] in der Kirche gesungen werden. Hier nehmen wir die alte Kirche zum Vorbild, und wir haben sogar das Zeugnis des heiligen Paulus, der es für eine gute Sache erklärt, in der Versammlung mit Herz und Mund zu singen. ... Die Gebete der Gläubigen sind bei unserer [bisherigen] Art zu beten ja derart kalt, dass uns dies tief beschämen muss. Die Psalmen können uns dazu ermutigen, unsere Herzen zu Gott zu erheben. Sie können in uns das Verlangen entfachen, seinen herrlichen Namen anzurufen und durch unser Lob zu erheben. … Hierbei scheint es uns gut, so vorzugehen, dass einige Kinder, denen man vorher ein schlichtes geistliches Lied auswendig beigebracht hat, mit lauter Stimme und deutlich vorsingen. Das Volk aber soll aufmerksam zuhören und mit dem Herzen dem Gesungenen folgen, bis dass Schritt für Schritt jeder sich daran gewöhnt hat, gemeinsam zu singen.“[9]

Was hier anklingt, begründet eine neue Gottesdienstgestalt, für welche die Predigt und die Psalmen kennzeichnend sind. Die Gemeinde sollte die Predigt und die gottesdienstlichen Texte in ihrer eigenen Sprache hören und verstehen können. Und vor allem sollte sie die eingeübten Psalmlieder mitsingen können. In der Bereimung und Vertonung der Psalmen entdeckt Calvin eine besonders geeignete Weise, um von Gott und zu Gott zu reden. In der Gottesdienstordnung stellt Calvin fest:

„Es geht darum, Lieder zu haben, die nicht nur anständig, sondern auch heilig sind; sie sollen für uns ein Ansporn sein, der uns zu Gebet und Gotteslob antreibt, zum Nachdenken über seine Werke, damit wir ihn lieben, fürchten, ehren und verherrlichen. ... Darum mögen wir suchen, wo immer wir wollen: Wir werden keine besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids, die der Heilige Geist ihm eingegeben und gemacht hat. Wenn wir sie singen, so sind wir sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, so als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen. … Im Übrigen haben wir an das zu erinnern, was Paulus sagt: dass die geistlichen Lieder nur mit dem Herzen richtig gesungen werden können. Das Herz aber verlangt nach dem Verstand. Darin liegt … der Unterschied zwischen dem Gesang der Menschen und dem der Vögel. … Die besondere Begabung des Menschen ist, dass er singen kann im Wissen um das, was er sagt. Herz und Gefühl sollen dem Verstand nachfolgen.“[10]

Am Ende dieser Überlegungen und Maßnahmen zur Stärkung des Gottesdienstes steht 1562 der Genfer Psalter, auch Hugenottenpsalter genannt, mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen. In der deutschen Fassung durch Ambrosius Lobwasser 1573 und durch Matthias Jorissen 1793 wurde der Genfer Psalter auch in deutschen reformierten Gemeinden populär. Calvin empfand es so, dass nicht er nach den Psalmen griff und in ihnen suchte – vielmehr griffen die Psalmen nach ihm und boten ihm Raum und Platz, um seinen Glauben und sein Leben in ihnen wiederzuentdecken. Über die Stellung des Menschen vor Gott und in der von ihm geschaffenen Welt schreibt Calvin:

„Eine wahrhaft außergewöhnliche und unvergleichliche Ehre, dass ein sterblicher Mensch als Vertreter Gottes so über die Welt herrschen darf, als ob das sein Recht wäre, und dass er überall, wohin er auch sein Auge wendet, sieht, dass ihm nichts zu einem glücklichen Leben fehlt!“[11]

Darauf zielt alle Theologie: auf die Anrufung Gottes im gesprochenen oder gesungenen Gebet. Das Gebet ist der entscheidende Ort des Gesprächs von Mensch und Gott. Ohne das Gebet würde der Glaube leblos werden. Das Reden zu Gott im Gebet wird zur Sehhilfe des Glaubens.

Calvin als Seelsorger

Calvin hat sich nicht nur als Prediger, sondern auch als Seelsorger verstanden. Er bemühte sich darum, die reformatorischen Einsichten für die seelsorgerliche Betreuung von Kranken, Sterbenden, Gefangenen und Ange­fochtenen fruchtbar zu machen. Im tröstenden Ge­spräch vergewisserte er die Menschen über den Zuspruch des Evangeliums. Seine Sicht des Menschen ist von einer doppelten Wahrnehmung geprägt: Der Mensch ist ein Geschöpf, dem Gott vielfältige Gaben verliehen hat. Und der Mensch ist zugleich eine gebrochene Gestalt, steht vor Gott mit leeren Händen da und ist auf sein Erbarmen angewiesen. Ein Grundpfeiler von Calvins Seelsorge liegt in der Überzeugung, dass die Sorge um den Menschen und die Gottesverehrung zusammengehören. Die Ehre Got­tes kann nicht recht gesucht werden ohne die Sorge um den Menschen. Und die Seelsorge kann nicht richtig wahr­ge­nommen wer­den, wenn Gott nicht anerkannt wird: „Wo Gott bekannt ist“, schreibt Calvin einmal, „ist auch für die Menschheit gesorgt“. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Seelsorge an einer Sterbenden gibt Calvin im Brief an Madame de Cany. Deren Freundin, Madame de Normandie, hat er in den letzten Stunden ihres Lebens begleitet und berichtet nun darüber:

„Gegen fünf Uhr morgens ging ich zu ihr. Nachdem sie sehr geduldig zugehört hatte, was ich ihr dem Ernste der Stunde entsprechend sagte, sprach sie: ‚Die Stunde nähert sich; ich muss die Welt verlassen; dieser Leib will sich nur noch auflösen; aber ich bin sicher, dass mein Gott mich in sein Reich heimholen wird. … Ich vertraue mich ihm an, ihm als meinem Vater.’ … Sie sagte zu mir, nachdem sie mich bei der Hand gefasst hatte: ‚Wie glücklich bin ich und wie guten Grund habe ich doch in Gott, dass er mich hierhergebracht hat, damit ich hier sterbe. … Ich habe hier nicht nur die Freiheit, Gott zu rühmen, sondern ich habe auch viel gute Ermunterung, die mich in mei­nem Heil bekräftigt.’ Manchmal sagte sie auch: ‚Ich kann nicht mehr.’ Worauf ich ihr ant­wortete: ‚Gott wird für Sie können. Er hat es Ihnen ja bis hier­her gut gezeigt, wie er den Seinen hilft.’ Sie sagte zugleich: ‚Ich glaube es, und er lässt mich seine Hilfe spüren.’ … Am Ende, als ich bereits dachte, sie sei hinübergegangen, sagte ich: ‚Nun lasst uns zu Gott beten, dass er uns die Gnade gebe, ihr zu folgen.’ Als ich aufstand, wandte sie ihre Augen zu mir, wie zum Dank dafür, dass wir ausharrten im Gebet und in der Tröstung. ... Sie schied so friedlich dahin, als wäre sie eingeschla­fen.“[12]

Auszuharren im Gebet und in der Tröstung – darin hat Calvin ein Beispiel gegeben, das bis heute weiterwirkt, etwa in den hilfreichen Diensten, die in den Hospizen geschehen. In einem anderen Brief bringt Calvin seine Trauer über den Tod eines jungen Mannes, der gemeinsam mit seinem Lehrer der Pest erlag, dessen Vater gegenüber zum Ausdruck:

„So freue ich mich, dass sie so, wie sie gewesen sind, mit mir gelebt haben. .. Nun sind unter frommen Ermahnun­gen und in beständiger Anrufung des Namens Gottes ihre gläubigen Seelen von dieser armen Erde gegangen, froh ihrer Vereinigung mit Christus. Ich wollte nicht einmal jetzt frei sein von all der Traurigkeit, um den Preis, dass ich sie nie gekannt hätte. ... Aber Sie werden fragen, was nützt es mir, dass mein Sohn ein Knabe war, der das Größte hoffen ließ, da er mir in der Blüte seiner Jahre geraubt wurde? … So haben die beiden gelebt, so sind sie gestorben, dass ich nicht daran zweifle, dass sie beim Herrn sind. So wollen auch wir wandern, dass wir zu dem Ziel kommen, das sie erreicht haben. Daran wollen wir nicht zweifeln, dass Christus sie und uns zu untrennbarer Gemeinschaft sammeln wird, einst in dem unvergleichlich schönen Teilnehmen an seiner Herrlichkeit. Hüten Sie sich also, Ihren Sohn zu betrauern als einen Verlorenen, da Sie doch erkennen, dass der Herr ihn bewahrt, dass er ewig der Ihre bleibe. … Sie werden sagen, es sei aber doch zu schwer, die Vaterliebe so zu verbannen oder zu unterdrücken, dass Sie beim Tod Ihres Sohnes keinen Schmerz empfänden. Das verlange ich von Ihnen auch durchaus nicht, dass es Sie nicht schmerze. Denn solche Lebensklugheit lernen wir in Christi Schule nicht, dass wir die uns von Gott gegebenen menschlichen Gefühle ablegen und aus Menschen Steine werden. Das alles zielt vielmehr nur dahin, dass Sie Ihrem ganzen gerechten Schmerz ein Ziel und Maß setzen; dass Sie wohl weinen, wie es die natürliche Vaterliebe von Ihnen fordert, aber sich nicht ganz der Trauer hingeben.“[13]

Immer wieder wütet in Genf die Pest, und Calvin weist seine Kollegen auf die Notwendigkeit hin, Menschen beizustehen, die an der Pest erkrankt sind. In einem Brief schreibt er:

„Die Pest beginnt auch hier heftiger aufzutreten, und wenige von den Erkrankten kommen davon. Wir werden einen von unserem Kollegium zum Beistand der Kranken bestimmen müssen. Da Pierre [Blanchet] sich dazu anbot, überließen wir alle es ihm gerne. Wenn ihm etwas widerfährt, fürchte ich, nach ihm mich in diese Gefahr begeben zu müssen. Denn, wie Du sagst, wir sind eines jeden Schuldner und dürfen denen nicht fehlen, die vor anderen unseren Dienst begehren. ... Solange wir unseren Dienst wahrnehmen, sehe ich nicht, was wir zur Entschuldigung vorbringen könnten, wenn wir aus Furcht vor der Ansteckungsgefahr die im Stiche ließen, die unsere Hilfe am nötigsten haben.“[14]

Und in einer Predigt über die Seligpreisungen erinnert Calvin an die Zusammengehörigkeit der Menschen in der Gemeinde, die praktische Auswirkungen hat:

„Wenn wir die einen krank, andere arm und ohne allen Besitz, wieder andere in einem Zerwürfnis und niedergeschlagen – sei es an Leib oder Geist – sehen, dann sollen wir daran denken: Ja, er gehört zu unserem Leib. Und dann sollen wir gleich durch die Tat zeigen, dass wir barmherzig sind. Denn wir können tausendmal behaupten, dass wir mit den Leidenden Mitleid haben. Wenn wir ihnen nicht [mit der Tat] helfen, sind all unsere Behauptungen nichts wert.“[15]

Immer wieder steht Calvin vor der Aufgabe, die vom Martyrium bedrohten Protestanten zu trösten und zu ermutigen. In einem Brief an seine in Lyon gefangen genommenen Studenten, die später hingerichtet wurden, schreibt er:

„Es ist gut, dass wir nie um die Hoffnung betrogen werden, die wir auf [Gott] und seine heilige Verheißung setzen. … Ich will Euch nun nicht mehr lange trösten und ermahnen, da ich wohl weiß, dass der Vater im Himmel selbst Euch hat spüren lassen, was sein Trost vermag, und Ihr schon eifrig genug darauf bedacht seid, zu betrachten, was er Euch in seinem Worte bietet. Er hat schon so sehr durch die Tat gezeigt, wie seine Kraft in Euch wohne, dass wir sicher sein dürfen, er wird es auch vollenden bis zuletzt. Ihr wisst, wenn wir aus dieser Welt scheiden, so gehen wir nicht auf ungewisses Abenteuer.“[16]

Calvin erkennt schon früh, dass das Sterben der Ernstfall des Lebens ist. Später spricht er von der lebenslangen Aufgabe, sich auf das künftige Leben vorzubereiten und rät zum Nachdenken über die Zukunft des eigenen Lebens.

Ein Abschied mit Stil

Wenige Wochen vor seinem Tod im Mai 1564 setzt Calvin ein Testament auf. Darin blickt er noch einmal zurück auf seinen Lebensweg und erklärt sodann, wie er seine persönlichen Dinge geordnet hat.

„Ich, Johannes Calvin, Diener an Gottes Wort in der Kirche von Genf, fühle mich von verschiedenen Krankheiten so zerschlagen, dass ich nicht anders denken kann, als dass Gott mich bald aus dieser Welt heimholen will, und habe mich deshalb entschlossen, ein Testament und eine Äußerung meines Letzten Willens schriftlich aufsetzen zu lassen in folgender Form: ... Gott hat seine Gnade an mir so weit gehen lassen, dass er mich und meine Arbeit zur Förderung und Verkündigung der Wahrheit seines Evangeliums brauchte. So erkläre ich, dass ich leben und sterben will in diesem Glauben und keine andere Hoffnung und Zuversicht habe als darauf, dass er mich aus Gnaden angenommen hat, worauf all meine Seligkeit beruht. …Ich erkläre auch, dass ich nach dem Maß der Gnade, die er mir verliehen hat, mich bemüht habe, sein Wort rein zu lehren in Predigten und Schriften und die Heilige Schrift getreulich auszulegen. Auch habe ich in allen Streitigkeiten, die ich mit den Feinden der Wahrheit durchzufechten hatte, nie Hinterlist noch Sophisterei gebraucht, sondern bin stets ehrlich vorgegangen in der Verteidigung seiner Sache. ... Im Übrigen ist mein Wunsch, dass mein Leib nach meinem Tod begraben werde auf die gewöhnliche Weise, und so will ich auf den Tag der seligen Auferstehung warten. Was nun die Anordnungen über das bisschen Hab und Gut betrifft, das mir Gott gegeben hat, so ernenne und setze ich ein als meinen einzigen Erben meinen herzlich geliebten Bruder, Antoine Calvin. … Danach vermache ich der Akademie zehn Taler und der Stipendienstiftung für arme Fremde ebensoviel. Ebenso der Jeanne, Tochter des Charles Costan und meiner Stiefschwester von väterlicher Seite, die Summe von zehn Talern. Dann den Söhnen meines oben genannten Bruders, Samuel und Jean, meinen Neffen, jedem vierzig Taler. Und meinen Nichten Anne, Susanne und Dorothee jeder dreißig Taler. Dagegen meinem Neffen David, ihrem Bruder, vermache ich, weil er leichtsinnig und flatterhaft gewesen ist, nur fünfundzwanzig Taler als Strafe. Das ist im Ganzen alles Gut, das mir Gott gegeben hat, nach dem, wie ich es bestimmen und schätzen konnte nach dem Wert meiner Bücher sowie der Möbel, des Hausrats und alles übrigen. Wenn sich jedoch noch mehr fände, so soll es unter meine genannten Neffen und Nichten verteilt werden, wobei David nicht ausgeschlossen sein soll, wenn ihm Gott die Gnade gibt, fortan sich maßvoller und gesetzter zu benehmen.“[17]

Wenige Tage, nachdem Calvin dies in seinem Testament bestimmt hat, bittet er seine Kollegen im Pfarramt an sein Krankenbett und verabschiedet sich von ihnen mit Dank, Selbstkritik und dem Bewusstsein, nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne des Evangeliums gehandelt zu haben.

„Ich habe viele Schwächen gehabt, die Ihr ertragen musstet, und all das, was ich getan habe, ist im Grunde nichts wert. Die schlechten Menschen werden diesen Ausspruch gewiss aus­schlachten. Aber ich sage noch einmal, dass all mein Tun nichts wert ist und ich eine elende Kreatur bin. Ich kann allerdings wohl von mir sagen, dass ich das Gute gewollt habe, dass mir meine Fehler immer missfallen haben und dass die Wurzel der Gottesfurcht in meinem Herzen gewesen ist. Und Ihr könntet sagen, dass mein Bestreben gut gewesen ist. Darum bitte ich Euch, dass Ihr mir das Schlechte verzeiht. Wenn es aber auch etwas Gutes gegeben hat, so richtet Euch danach und folgt ihm nach. ... Achtet weiter darauf, dass kein Streit und keine bösen Worte zwischen Euch aufkom­men, wie Ihr Euch manchmal schon gegenseitig mit beißendem Spott überzogen habt. ... Darum sollte man sich davor hüten und stattdessen in gutem Einvernehmen und in aufrichtiger Freund­schaft mit­einander leben.“[18]

Es ist ein Abschied mit Stil, in dem Calvin Töne der Bescheidenheit anschlägt und deutlich macht, dass sein Wirken dem Evangelium galt, damit es Frucht bringt unter den Menschen. Calvins Erkenntnis, dass Gott seinem Leben eine Grenze gesetzt hat, mündet nicht in Resignation, sondern in das Vertrauen auf diesen Gott, dem er sich im Leben und im Sterben anvertraut. Für dieses Vertrauen, dass Gott am Anfang und am Ende des Lebens, aber auch am Ende des Tages und am Anfang der Nacht seine Menschen gnädig behütet, hat Calvin ein Leben lang geworben und es seiner Gemeinde in einem Abendgebet einmal so vorgesprochen:

„Herr Gott, es hat dir bei der Schöpfung gefallen, die Nacht für die Ruhe des Menschen und den Tag für seine Arbeit zu bestimmen. Erweise mir die Gnade, in dieser Nacht den Leib so ruhen zu lassen, dass meine Seele immer zu dir wacht und mein Herz sich zu dir in Liebe erhebt. So möchte ich mich von aller irdischen Sorge lösen und mich, wie es angesichts meiner Schwäche nötig ist, stärken, ohne dich zu vergessen. Lass die Erinnerung an deine Güte und Gnade immer in meinem Gedächtnis wohnen und gib damit meinem Gewissen ebenso seine geistliche Ruhe wie dem Leib die seine. Ferner möge mein Schlaf sich nicht über die Maßen ausdehnen, damit er sich nicht der Bequemlichkeit meines Leibes in übertriebener Weise hingibt, sondern er soll sich nach der Schwäche meiner Natur richten und nur solange dauern, dass ich wieder in der Lage bin, dir zu dienen. Auch möge es dir recht sein, mich an Leib und Seele unbeschadet zu erhalten und mich vor allen Gefahren zu bewahren, so dass selbst mein Schlaf deinen Namen verherrlicht. Und da dieser Tag nicht vergangen ist, ohne dass ich armer Sünder dich vielfach zornig gemacht habe, wollest du durch deine Barmherzigkeit all meine Schuld begraben, so wie jetzt die von dir auf die Erde gesandte Finsternis alles verbirgt. Verwirf mich um [deiner Barmherzigkeit willen] nicht von deinem Angesicht! Erhöre mich, mein Gott, mein Vater, mein Heiland, durch unseren Herrn Jesus Christus! Amen.“[19]

Humor und Lebensgenuss

Calvin hatte Freude an den schönen Seiten des Lebens: an der geschaffenen Natur und ihren Früchten, an der Literatur und übrigens auch am Reiten – Pferde waren seine Lieblingstiere. Und er konnte lachen – auch über sich selber. So bemerkte er einmal über Gerüchte, er sei tot: „Davon merke ich gar nichts.“ Ein Beispiel für Calvins Sinn für Humor findet sich in einem Brief, in dem er bedauert, einen Freund bei seinem Besuch nicht angetroffen zu haben:

„Es tat mir und meinem Begleiter aus manchen Gründen leid, dass wir Dich nicht zu Hause trafen; besonders, weil wir uns mit dir über verschiedene Dinge zu besprechen wünschten. Dazu kam aber noch das eine, dass wir deine Frau nicht dazu bringen konnten, uns einfach als Hausgenossen zu behandeln. Denn sie trieb es so verschwenderisch, dass es mir vorkam, wir seien bei jemand ganz Unbekanntem zu Besuch. Zwar ließ sie sich zureden. Öfters bat sie, ich möchte nur befehlen, was mir beliebe. In allem anderen folgte sie mir, nur darin bestand sie auf ihrem Willen, dass sie viel zuviel Aufwand machte für unsere Verpflegung. Es stand immer doppelt soviel Essen da, als nötig gewesen wäre. Das hat uns aber keineswegs gehindert, ganz ungeniert von deiner Gastlichkeit Gebrauch zu machen. Jedenfalls waren wir so gut aufgehoben, wie wenn du da gewesen wärest. Da ich Viret geschrieben hatte, an welchem Tage ich hier sein werde, hatte ich gehofft, er werde mit dir gleich herüberfahren. Nun habt Ihr unterdessen stets widrigen Wind gehabt. Nun aber vernimm noch kurz einiges, damit ich Dich nicht, nachdem wir dein Haus leergegessen, auch an Neuigkeiten leer lasse.“[20]

Calvin gab seinen Zeitgenossen oft Anlass, ihn als einen strengen, ernsten und spröden Charakter wahrzunehmen. Gelegentlich treten aber auch die heiteren Seiten des Lebens und der Humor über menschliche Eigenarten hervor. Zu Psalm 119 schreibt Calvin:

„Die Menschen in ihrer Überheblichkeit sind wie die umherspringenden Frösche; aber sie können nicht so weit springen, als dass sie Gott zu verletzen vermöchten. Sie wollen ihre Flügel ausbreiten, aber sie sind nur wie große Schnecken.“[21]

Einmal berichtet Calvin davon, dass er einem Betrüger aufgesessen ist, und schreibt darüber an Oswald Myconius:

„Vernimm zum Anfang, dass [der Betrüger Alberge] seit vielen Jahren nichts anderes tut, als herumzufahren, die einen um Geld, die anderen um Kleider zu betrügen, und so vom Schwindel lebt. … Später kam er nach Straßburg und erpresste 20 Batzen von mir, die ich selbst anderswo entlehnen musste. … Er versprach, er werde sie mir innerhalb weniger Tage zurückgeben. Eine wertlose Kiste ließ er als Pfand bei mir stehen. Nach ein paar Monaten kam er wieder und bat mich lächelnd oder vielmehr höh­nisch grinsend, ob ich ihm nicht ein paar Kronen leihen könne. Ich gab zur Antwort, ich brauche selbst die Summe wieder, die er bereits habe. Darauf brachte der Schwindler heimlich die Kiste aus meiner Bibliothek weg und wollte es der Frau Bucers übergeben; die wies es aber zurück. … Seit der Zeit ist er mir nicht wieder zu Gesicht gekommen; es sind anderthalb Jahre seither verstrichen. Da ich wusste, dass viele Kleinigkeiten in der Kiste waren, öffnete ich sie vor vielen Zeugen. Es waren faule Äpfel drin und aller­hand Trödel und halbzerrissene Bücher. … Ich fand auch Briefe, die er mir gestohlen hatte.“[22]

Calvin schreibt über das Vergnügen an den schönen Dingen des Lebens, zu dem Gott die Menschen ausdrücklich einlädt. Sie sollen von ihrer Freiheit Gebrauch machen und die ihnen von Gott geschenkten Güter wertschätzen.

„Der Gebrauch der Gaben Gottes geht nicht vom rechten Wege ab, wenn er sich auf den Zweck ausrichtet, zu dem uns der Geber selbst diese Gaben erschaffen und bestimmt hat. Er hat sie nämlich zu unserem Besten erschaffen und nicht zu unserem Verderben. Deshalb wird keiner den rechten Weg besser innehalten als der, welcher diesen Zweck fleißig im Auge behält. Wenn wir nun also bedenken, zu welchem Zweck er die Nahrungsmittel geschaffen hat, so werden wir finden, dass er damit nicht bloß für unsere Notdurft sorgen wollte, sondern auch für unser Ergötzen und unsere Freude. So hatte er bei unseren Kleidern außer der Notdurft auch anmutiges Aussehen und Anständigkeit als Zweck im Auge. Kräuter, Bäume und Früchte sollen uns nicht nur mancherlei Nutzen bringen, sondern sie sollen auch freundlich anzusehen sein und ihren Wohlgeruch haben. … Auch die natürlichen Gaben der Dinge selbst zeigen uns ausreichend, wozu und wieweit man sie genießen darf. Hat doch der Herr die Blumen mit solcher Lieblichkeit geziert, dass sie sich unseren Augen ganz von selber aufdrängt, hat er ihnen doch so süßen Duft verliehen, dass unser Geruchssinn davon erfasst wird – wie sollte es dann ein Verbrechen sein, wenn solche Schönheit unser Auge, solcher liebliche Duft unsere Nase berührte? Wie, hat er denn nicht die Farben so unterschieden, dass die eine anmutiger ist als die andere? Wie, hat er nicht Gold und Silber, Elfenbein und Marmorstein solche Schönheit geschenkt, dass sie dadurch vor anderen Metallen und Steinen kostbar werden? Hat er nicht überhaupt viele Dinge über den notwendigen Gebrauch hinaus kostbar für uns gemacht?“[23]

Und an anderer Stelle bekräftigt Calvin, dass die Menschen die von Gott geschaffenen Gaben maßvoll genießen dürfen:

„Ganz gewiss sind doch Elfenbein, Gold und Reichtümer gute Geschöpfe Gottes, die dem Gebrauch der Menschen überlassen, ja, von Gottes Vorsehung dazu bestimmt sind. Auch ist es doch nirgendwo untersagt, zu lachen oder sich zu sättigen oder neue Besitztümer mit den alten, ererbten zu verbinden oder sich am Klang der Musik zu freuen oder Wein zu trinken.“[24]

Auch wenn Calvin wegen seiner vielen Krankheiten in den letzten Lebensjahren auf den Weingenuss verzichten musste, rät er anderen dazu, sich am Wein zu freuen:

„Gott sorgt nicht nur für die lebensnotwendigen Belange der Menschen und gibt ihnen, was für den gewöhnlichen Lebensunterhalt hinreichen mag, sondern er behandelt sie in seiner Großzügigkeit noch sehr viel freundlicher, indem er ihre Herzen mit Wein und Öl aufheitert. Denn unsere Natur würde sich allemal mit einem Trunk Wasser begnügen; kommt Wein hinzu, so ist dies Gottes besondere Freigebigkeit. … Man darf sehr wohl Wein trinken, und zwar nicht nur, wo die Not es gebietet, sondern auch zur Freude, doch soll sich diese Freude in nüchternen Schranken halten: vornehmlich, damit die Menschen nicht die Kontrolle über sich verlieren, ihre Sinne betäuben oder ihre Kräfte schwächen. ... Wer sich in dieser Weise freuen kann, wird auch bereit sein, Traurigkeit zu ertragen, sooft es denn Gottes Wille ist. … Es ist durchaus von Nutzen, sich klar zu machen, dass Gott maßvolle Vergnügen sehr wohl erlaubt, wenn die Mittel dazu vorhanden sind.“[25]

Im gleichen Sinne äußert sich Calvin zum Genuss gut schmeckender Speisen:

„Wenn einer auf den Gedanken gekommen ist, feinere Speise sei nicht erlaubt, dann wird er am Ende nicht einmal mehr Brot und einfache Nahrungsmittel in Frieden vor Gott genießen. ... Wenn einer bei einigermaßen wohlschmeckendem Wein bereits Bedenken hat, so wird er bald nicht einmal gemeinen Krätzer mit gutem Frieden seines Gewissens trinken können, und am Ende wird er nicht einmal mehr wagen, Wasser anzurühren, das besser und reiner ist als anderes. Kurz, er wird schließlich dahin kommen, dass er es für Sünde hält, über einen quer im Wege liegenden Grashalm zu gehen, wie man so sagt.“[26]


[1] Vorrede zum Psalmenkommentar (1557), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 25.27.29.

[2] Vorrede zum Psalmenkommentar (1557), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 29.31.

[3] Vorrede zum Psalmenkommentar (1557), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 25.

[4] Brief an Wilhelm Farel, 19.5.1539, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1961, 119.

[5] Brief an Wilhelm Farel, September 1540, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1961, 157f.

[6] Calvini Opera 9,823; vgl. J. Quack, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Bd. 43), Tübingen 1975, 113–115.

[7] Vorrede zum Psalmenkommentar (1557), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 21.

[8] J. Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 17: Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, Neukirchen 1963, 163.

[9] J. Calvin, Artikel zur Ordnung der Kirche (1537), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 1.1: Reformatorische Anfänge 1533–1541, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1994, 125.

[10] J. Calvin, Genfer Gottesdienstordnung (1542), in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 159.161.

[11] Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 71.

[12] Brief an Madame de Cany vom 29.4.1549, in: Chr. Möller (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 2: Von Martin Luther bis Matthias Claudius, Göttingen/Zürich 1995, 112f. (H. Scholl).

[13] Brief an Monsieur de Richebourg, April 1541, in: in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 2, Neukirchen 1961, 188–190.

[14] Brief an Peter Viret, Oktober 1542, in: in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1961, 233.

[15] Predigt über Matthäus 5,5–7 vom 20.10.1560, in: Johannes Calvin 1509–1564. Eine Gabe zu seinem 400. Todestag, hg. v. J. Rogge, Berlin 1963, 147.

[16] Brief an gefangene Studenten in Lyon vom April 1553, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 2, Neukirchen 1961, 636–638.

[17] Testament, 25.4.1564, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 3, Neukirchen 1962, 1279f.

[18] Abschiedsrede an die Pfarrer, 28.4.1564, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 298–301.

[19] Anhang zum Katechismus von 1537, in: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in dt. Übers., bearb. u. hg. v. P. Jacobs, Neukirchen 1949, 67f.

[20] Brief an Christophe Fabri vom April 1545, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1961, 304.

[21] Auslegung zu Psalm 119,20.

[22] Brief an Oswald Myconius, 14.3.1542, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1961, 218f.

[23] Unterricht in der christlichen Religion (1559) III,10,2.

[24] Unterricht in der christlichen Religion (1559) III,19,9.

[25] Zu Psalm 104,15, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008, 293.295.297.

[26] Unterricht in der christlichen Religion (1559) III,19,7.


©Pfr. Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Wuppertal
 

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