Kurzgeschichten
Er ist früher zu Hause als sonst, denn er will in seiner eigenen Bibliothek nach Texten suchen. Da klingelt das Telephon. / Ach, du bist zu Hause! Hast du schon den Fernseher eingeschaltet? / Wieso? Ich arbeite. / Na, mach mal. Bis später. / Die Kollegin hat wieder aufgelegt. Er geht und schaltet den Apparat ein. Zu sehen ist ein brennender Wolkenkratzer. Schwarze Wolken quellen nach allen Seiten weg. Eine grosse Düsenmaschine kracht in die oberen Stockwerke. Ein Hochhaus stürzt ein. Gelangweilt schaltet er ab. / Was soll ich mit dieser Scheisse? Was denkt sie sich? / Science Fiction und Hollywood haben ihn schon immer gelangweilt. Katastrophenfilme findet er widerlich. Die geilen sich immer nur an ihren eigenen Albträumen auf! Sowas als Unterhaltung zu konsumieren, kommt ihm obszön und pervers vor. Wenn es mal wirklich so käme, wären sie die ersten, die kopflos durch die Gegend rennen. Er geht in die Bibliothek, um seine Texte zu suchen. / Wieder läutet das Telephon. / Und? / Was und? Du weisst doch, dass mich dieser Quark aus Hollywood nicht interessiert, kennst mich doch! / Geh und schau genauer hin. / Er schaltet den Apparat erneut ein. Wieder und wieder kracht ein Flugzeug in einen Tower. Perfekt gemacht, denkt er, das können sie. Performance brilliant, Aussage idiotisch. Das Übliche. / Da sieht er plötzlich unten das ständig durchlaufende Nachrichtenband. Zweifel steigen auf. Er wechselt den Sender. Dieselben Bilder. Noch ein anderer. Wieder dasselbe. Da dämmert ihm, dass der Horror wahr geworden ist. / Er kennt diese Towers. Er war vor einem Jahr dort, fast genau auf den Tag. Er erinnert sich, nur unten in der riesigen Lobby herumgelaufen zu sein und auf der grossen Plaza. Die Spitzen der Türme waren in den Wolken. Vom Empire State aus hat er sie, als Lower Manhattan noch in voller Vormittagssonne lag, gesehen und photographiert. Inzwischen ein historisches Bild. / Nine ten ist das gewesen, jetzt ist nine eleven. Damals der vierzehnte, heute der elfte. Auf drei Tage genau vor einem Jahr. / Nun schaut er geschlagene sechs Stunden zu. Ihn schaudert. Apocalypse now.
2001
MK