Durch Hohes und Tiefes

Advents-Wunschlieder-Singe-Gottesdienst am 4. Advent


© Pixabay

Von Stephan Schaar

Liebe Gemeinde!

Der Glaube kommt aus dem Hören, lehrt der Apostel Paulus im Römerbrief - und wir Protestanten nennen uns die “Kirche des Wortes”.

Zwar beneiden wir manchmal die Katholiken um ihre beeindruckenden Inszenierungen, aber bevor wir in unserer ohnehin von Bilderflut geprägten Welt die Augen aufmachen, sollten wir tatsächlich erst einmal die Ohren spitzen und genau hinhören, was uns da gesagt wird!

Autor der Botschaft ist in diesem Fall der 1924 geborene evangelische Pfarrer Dieter Frettlöh, über den ich im Internet nicht allzu viel erfahren habe. Dass er zunächst neue Texte auf altbekannte Kirchenliedermelodien gedichtet und später zahlreiche neue Kirchenlieder getextet hat, verrät uns Wikipedia, und auf einer anderen Seite las ich, dass er als Gefängnisseelsorger die »Parteiergreifung für die Schwächeren mehr und mehr zu einer grundsätzlichen Haltung« machte.

Deswegen spricht er die “taube Christenheit” an, die sich selbst genug ist und “in Frieden” ein schönes Weihnachtsfest feiern möchte, statt sich die Feststimmung verderben zu lassen von den Problemen anderer und deren Schmerz.

➋ Hör den Schrei der Armen und der Engel Lied. Gott will sich erbarmen, wo er Elend sieht, wo er Elend sieht.

1980 ist dieses Lied entstanden. Damals waren andere Weltgegenden in den Schlagzeilen als heute:

Der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan im Jahr zuvor hatte den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau durch die allermeisten westlichen Staaten zur Folge.

In Polen wurde die unabhängige Gewerkschaft Solidarność gegründet - und bald darauf das Kriegsrecht verhängt.

Die Probleme haben sich lediglich an andere Orte verlagert, verschwunden sind sie nicht. Wenn Bomben fallen und Drohnen fliegen, geraten die Hungernden ein wenig aus dem Blick. Noch immer kämpfen Milliarden Menschen um das nackte Überleben - aber nicht nur Babies mit Hungerbäuchen, wie wir sie in Berichten aus dem Jemen zu sehen bekommen, sondern ebenso Kinder, Frauen, Männer, die in den Ruinen von Gaza hausen, im Norden Syriens, in den Kriegsgebieten der Ukraine.

Und was singen die Engel? - Ihr “Friede auf Erden!” ist kaum noch wahrzunehmen, wo man “Kriegstüchtigkeit” anstrebt. Fast scheint es, als sei schon die Sehnsucht nach Frieden verdächtig geworden - dabei ist, so meine ich, lediglich jenes Geschwafel gefährlich, das außer acht lässt, dass es skrupellose Aggressoren gibt, die brutal Gewalt ausüben, und Menschen wie du und ich, die sich mit allem, was ihnen zu Gebote steht, zur Wehr setzen, um ihr Leben und ihre Würde zu verteidigen.

➌ Christus wird geboren in den Hungertod. Öffne deine Hände, bricht für ihn das Brot, brich für ihn das Brot.

Was ihr einem von diesen getan habt, das habt ihr mir getan - und was ihr einem von diesen nicht getan habt, das habt ihr mir verweigert. So redet Christus im Weltgericht laut dem Zeugnis des Evangelisten Matthäus.

Frettlöh hat sich also nicht etwa ausgedacht, dass wir Christus etwas zu tun schuldig sind. Ist Christus “uns” geboren - also mitten unter uns und als einer von uns -, dann teilt er auch das Schicksal der Menschen.

In den allermeisten Fällen trifft er es schlechter, als wenn er an unser Statt wäre. Ist uns das eigentlich noch bewusst, wenn wir in ihm nur den Gottessohn und etwas Majestätisches sehen?

Am Heiligen Abend kollektieren wir in der EKD ausschließlich für “Brot für die Welt”. Bestimmte Projekte werden dadurch finanziert, und das ist besser, als wenn es diese Maßnahmen nicht gäbe. Aber genügt es, ein wenig abzugeben von unserem Überfluss? - Eigentlich müssten wir doch teilen, was wir haben, damit es für alle reicht...

➍ Teile mit den Armen und der Hirtenschar. Gott will sich erbarmen, er speist wunderbar, er speist wunderbar.

Ja, liebe Gemeinde, man kann es, bei Licht besehen, nur ein Wunder nennen, wenn Menschen tatsächlich dazu bereit sind, an die anderen ebenso zu denken wie an sich selbst.

Wo die Bibel von Speisungen berichtet, da geht es selten um Üppigkeit - allenfalls als Metapher für die große Freude, Gottes Gegenwart erleben zu dürfen.

Menschen auf dem Weg werden schlichtweg ernährt, damit sie die Kraft bekommen für den nächsten Schritt - Manna in der Wüste für den Weg in die Freiheit der Kinder Gottes, ein paar ausgeraufte Ähren für die Jünger Jesu, die ihren Rabbi begleiten, und 2 Brote und 5 Fische für jene, die in der Wüste umherirren und wie Schafe wirken, die keinen Hirten haben - und doch in Jesus Christus einen Hirten bekommen, der sie auf gute Weide führt und nicht allein mit Brot versorgt, sondern sie von Gottes gutem Wort leben lässt, wie es auf den zwei Tafeln des Gesetzes und in den fünf Büchern der Weisung niedergeschrieben ist.

➎ Christus wird geboten in der Dunkelheit. Öffne deine Augen, blinde Christenheit, blinde Christenheit.

Mittlerweile habe wir ja einiges bereits in den Blick genommen, liebe Geschwister!

Ganz mit Blindheit geschlagen sind wir nicht - auch wenn wir immer wieder dazu neigen wegzuschauen, wo es unbequem wird, wo fremdes Leid in das Licht der Öffentlichkeit rückt und uns in die Verlegenheit bringt, das weder leugnen zu können und zu wollen noch aber auch zu wissen, was wir eigentlich tun können; oder anders: Was “man” tun müsste, könnte, sollte - das ist allzu oft bekannt. Aber wer nimmt es auf sich, tatsächlich etwas zu tun und nicht nur im Konjunktiv zu reden?

Es ist ohne Frage behaglich, im Kerzenschein beisammenzusitzen. Aber das Dunkel geht davon allein nicht weg - im Gegenteil: Wenn wir es hell haben, sehen wir erst recht nicht mehr, was sich in der Finsternis abspielt, mitunter ganz in unserer Nähe.

Und in diese Dunkelheit hinein ist Christus geboren - Johannes formuliert: Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht auslöschen können. Nun gut, das Licht ist noch da, aber die Finsternis ist ebensowenig davon weggegangen, dass nun ein Licht in ihr leuchtet.

In der Dunkelheit aber leuchtet ein Stern, und der führt uns zum Kind. Was wir dort finden, wenn wir den Hirten und den Königen folgen, die kommen, um anzubeten, ist augenscheinlich nichts anderes als ein Baby, das in ärmliche Verhältnisse hineingeboren wird. Erbärmlich ist das, liebe Gemeinde - Zeichen dessen nämlich, dass Gott sich unser erbarmt hat.

➏ Sieh die Not der Armen und das Kind im Stall. Gott will sich erbarmen, hier und überall, hier und überall.


Stephan Schaar