Tagesgebet

SUCHE NACH EINER PREDIGT

from... - die reformierte App

Newsletter
Wahrer Adel
Predigt am 4. Trinitatissonntag 2025 in Gummersbach (Gen 50,15-21)

Gebet zum 4. Sonntag nach Trinitatis (von Sylvia Bukowski)
„Gnädiger Gott,
du weißt,
was wir mitschleppen in unserem Leben:
da gibt es Lasten aus unserer Kindheit,
Kränkungen, die wir nicht vergessen können,
Erinnerungen an Verrat, Verlassenwerden und peinliche Situationen.
Immer wieder leiden wir
unter den Folgen dieser Erfahrungen,
immer wieder stößt uns unsere Ohnmacht
und unser Ausgeliefertsein von damals bitter auf.
Wir können Vieles nicht vergessen,
aber wir bitten dich,
mach uns fähig zu vergeben.
Gott, wir denken an das,
was wir selbst versäumt und falsch gemacht haben.
Manches blockiert immer noch den Kontakt
zu Menschen, die uns einmal nahe waren.
Manches können wir beim besten Willen
nicht wieder gutmachen.
Wir schämen uns,
wenn wir daran denken
und bitten dich:
Lass uns an unserer Schuld nicht zerbrechen.
Es gibt so Vieles, Gott,
was wir uns anders gewünscht hätten
an anderen und an uns selbst.
Hilf, dass wir ändern, was zu ändern ist
und dass wir geduldig ertragen,
was wir hinnehmen müssen.
Du, allmächtiger und barmherziger Gott
kannst aus Schwachheit Stärke machen.
Du kannst Böses in Gutes verwandeln.
Wir bitten dich:
heile auch uns.“1
Text: Gen 50,15-21
„Und die Brüder Josefs sahen, dass ihr Vater gestorben war, und sie sprachen: Was, wenn Josef uns feind ist und uns all das Böse vergilt, das wir ihm angetan haben? Daher ließen sie Josef ausrichten: Dein Vater hat vor seinem Tod geboten: Dies sollt ihr zu Josef sagen: Ach, vergib deinen Brüdern ihr Verbrechen und ihre Verfehlung, denn Böses haben sie dir angetan. Nun vergib den Dienern des Gottes deines Vaters ihr Verbrechen! Josef aber weinte, als sie zu ihm redeten. Dann gingen seine Brüder selbst hin, fielen vor ihm nieder und sprachen: Sieh, wir sind deine Sklaven. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Bin ich denn an Gottes Statt? Ihr zwar habt Böses gegen mich geplant, Gott aber hat es zum Guten gewendet, um zu tun, was jetzt zutage liegt: ein so zahlreiches Volk am Leben zu erhalten. So fürchtet euch nicht! Ich will für euch und eure Kinder sorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.“
Predigt
Liebe Gemeinde,
geht es euch wie mir? Ich halte die Joseferzählung für ganz faszinierend! Für mich ist sie schon lange ein erzählerisches Glanzstück. Und unser Auszug: Ist ein Drama ganz eigener Art. Es ist voller Aufs und Abs. Die Leser*innen fiebern mit bei jeder Wendung. Und dies ist Absicht!
Der Text steht am Ende der Erzählung von Josef und seinen Brüdern sowie am Ende des ersten Mosebuches. Er ist Ende und Übergang zusammen. Denn er erzählt erst von Angst, Scham und Unterwerfung (die V. 15-17b), dann aber von Schmerz, Mut und Versöhnung (die V. 17c-21). Wichtig ist mir im Folgenden der kleine Satz: „Josef aber weinte…“.
Angst gebiert Angst
„Josef aber weinte…“ Warum? Weil er sieht, dass seine Brüder nichts gelernt haben in all der langen Zeit, seit sie sich getrennt haben. Sie wollten ihn töten, entschieden sich um und machten ihn zu einem Sklaven, zu einem Unfreien. So entmenschlichten sie ihr eigen Fleisch und Blut!
Zu fragen ist: Was hätten sie denn lernen können? Viel, denke ich.
Ihr Lieben, Josefs Brüder haben Josef beneidet. Neid ist eine hässliche Empfindung, das zeigen einschlägige Umfragen. Geschätzt wird an anderen: Ehrgeiz, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Durchsetzungsstärke. Um nur einige wenige zu nennen. Neid gehört nicht dazu.
Eine noch weiter verbreitete Charaktereigenschaft ist die Angst. Wo diese herkommt, ist schwer zu sagen. Wir haben sie wohl alle erlebt. Sie ist nach meiner Erfahrung wie ein Krebsgeschwür. Ich meine mit Angst nicht kluge Sorge. Es lauern Gefahren, in die wir uns besser erst gar nicht hineinbegeben oder hineinbegeben hätten – zumindest nicht, wenn man nicht in die Bredouille kommen will. Aber die Angst, von der ich rede, ist nicht nur privater, sondern auch öffentlicher Natur. Es ist verdrängte Furcht, die Beziehungen vergiftet. Und die Josef traurig macht.
Er war schon immer ein sensibler Junge, ja, ein arger Träumer war er! Doch von seinen Brüdern (ausgenommen Benjamin) wird er stets aufs Neue enttäuscht. „Josef aber weinte…“ Weshalb? Ist er zu weich? Nein! Seine Brüder leben nach der Devise: Was du mir (Übles) tust, füg ich dir doppelt zu. Josefs Brüder haben Hintergedanken. Sie denken, Josef sei wie sie. Aber sie liegen ganz falsch, völlig daneben.
Ihr tief verwurzeltes Misstrauen gegen Josef und damit auch gegen ihren Vater bringt sie in Not und Armut, aus der sie aber nichts lernen. Sie sind feige. Sie gehen nicht direkt zu Josef, sondern senden einen Boten. Der soll vorfühlen! Quasi-Vorkoster. Furcht und Feigheit sind zwei Seiten einer Medaille. Als sie zu ihm gehen, erdreisten sie sich Josef Gottgleichheit zuzuschreiben. Er weist sie darauf hin zu Recht zurecht. Was muss in Josef vorgegangen sein, als er erlebte, dass die, die ihm nahestehen und verarmt sind, ihm, dem feinen Jungen, alles und nichts zutrauten? „Josef aber weinte …“ Liebe Gemeinde, wenn das ethische Bewusstsein einer Familie derartig unterentwickelt ist, dann muss das zum Himmel schreien (Gen 4). Die Erfahrung, die Josef mit seinen Brüdern gemacht hat und wieder macht, die prägt ihn – jedoch nicht sehr. Und das, liebe Gemeinde, das ist erstaunlich!
Der Schmerz Josefs als Schmerz Gottes
„Aber Josef weinte…“ Der Genfer Reformator Johannes Calvin schreibt zu diesem Sätzlein:
„Die Tatsache, daß Joseph in solcher Teilnahme über ihre Trauer und Angst weinte, ist uns ein vorzügliches Beispiel, selbst mitleidig zu sein. Wenn uns der Kampf gegen Zornesausbrüche und trotzigen Haß zu schwerfällt, müssen wir Gott um den Geist der Sanftmut bitten; seine Macht erweist sich heute an Christi Gliedern nicht weniger wirkungskräftig als einst an Joseph.“2
Über den „Kampf gegen Zornesausbrüche und trotzigen Haß“ weiß ich wohl eine Anekdote zu erzählen. Unsere Tochter und ich sind uns hier (leider) ähnlich. Ich habe in solchen Situationen nicht um Gottes Geist gebeten, wie Calvin rät! Das sollte ich tun... Mir hat man empfohlen, in hitzigen Situationen einen Ortswechsel vorzunehmen. Meine Tochter lässt ihre Wut derweil an ihrem Kopfkissen aus. Ein Anfang…
Wie anders ist Josef! Er hatte schon immer seinen ganz eigenen Kopf. Und das hat sein Vater, Jakob-Israel, an ihm so geschätzt. Er war sein Liebster! Er war anders als die anderen. Und nun also: Dafür wurde er beneidet.
Die Brüder fühlten sich vom Vater zurückgesetzt, eventuell verraten – obendrein missgönnten sie diesem sensiblen, edlen Knaben das, was er war und tat. Auch heut können die Zeitgenossen mit so aparten und feinsinnigen Menschen wie Josef wenig anfangen. Dieser ist ja unangepasst, eigenbrötlerisch, für viele „anormal“. Aber was ist schon „normal“? Wer ist „normal“?
Josef ist wirklich anders als seine Brüder und viele andere Menschen, denen er in seinem kurzen Leben in Kanaan und Ägypten begegnet ist. Er gedenkt, dass sie sind, wie sie sind und das er ist, wie er ist. Er ist weise. Er weiß in jungen Jahren viel vom Leben. Er hat es durchlitten – die schreckliche Feigheit der Brüder tut ihm in der Seele weh.3 Was für ein Mensch!
Worin besteht Josefs Andersartigkeit? Er ist dem Gott seiner Väter treu, treuer als die Brüder, die noch nicht einmal den Namen Gottes wissen. Nur dieser Gott, nicht sein biologischer Vater, sondern der Gott Israels, dessen Namen Josef Ehre macht, ist sein wahrer Vater! So blickt Josef voraus auf den Messias Israels (Jakobs).
Gott verdankt Josef alles, was er hat und ist: Rettung vor dem Tod! Freiheit aus Knechtschaft! Aufschwung unter Fremden! Einfluss, Respekt u.v.m. Alles(!) verdankt er dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das ist sein Adel, sein wahrer Adel. Seine Menschlichkeit, seine Empathie, Sympathie verdankt er Gott und dankt sie Gott. Er ist, wie wir sagen könnten, eine treue Seele.
Er weiß, dass Gott aus dem Bösen, das auch wir tun, Gutes erschaffen kann. Auch Josef wendet Böses in Gutes. „Fürchtet euch nicht!“, sagt er zweimal. „Fürchtet euch nicht!“ Vertraut Gott –ihm habt ihr alles, was ihr habt und seid, zu verdanken! Ihr denkt vielleicht jetzt, dass ihr euren Wohlstand nicht mehr lange aufrechterhalten könnt und fürchtet Abstieg, Gesichtsverlust, sogar Einsamkeit? „Fürchtet euch nicht!“ Gott weiß, was uns fehlt, er kommt zu uns, und gibt uns – was wir brauchen. Nicht was wir brauchen, sondern wo er unsere Not sieht.
Vielleicht habe ich auch leicht reden, denkt jetzt mancher. Deshalb lasse ich einem anderen den Vortritt: „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1-2)
Versöhnung, nicht leicht gemacht
„Josef aber weinte…“ Dabei ist‘s nicht geblieben, ihr Lieben. Aus Josefs Schmerz wird Umkehr – Mit-Leid. Aus Trauer heraus redet er freundlich zu seinen Brüdern, tröstet sie und redet ihnen ins Gewissen. Von Herzen!
Josefs Schmerz ist der Schmerz Gottes! Josef, in Seinem Dienst, macht es sich nicht leicht mit Versöhnung. Seine Brüder sind krass an ihm schuldig geworden. Sein tiefer Anstand zeigt sich so: Zuerst muss ich meinen Brüdern ihren fiesen Unterwürfigkeitsgeist „austreiben“, der auch noch rechthaberisch daherkommt. Frech! Den weist er sofort zurück und sagt, dass er für sie sorgt. Er nimmt ihnen den Wind aus den Segeln. Er ist fürsorgend4 - wie sein Vater im Himmel. Durch sein Herz geht ein Riss – darum! kann er seinen Brüdern zu Herzen reden. Leider wissen wir nicht genau, was er ihnen erzählt hat. Doch für Josef gilt, was uns gilt5: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Mt 6,12).
Liebe Gemeinde, ich wünsche uns, dass wir uns die Not der Geschwister, der „natürlichen“ wie der kirchlichen, der ganzen Gemeinde, inklusive Israels, zu Herzen gehen lassen und freundlich miteinander sprechen, damit wir einander zu Herzen gehen können. Wohltuend, aufbauend. Zur Not bestimmt.
Ist es euch aufgefallen? Der Gott Israels will Mitstreiter. Er will nicht alleine fürsorgend sein – und umkehren will er auch nicht ohne uns. Gott will nicht ohne uns ans Werk der Versöhnung, an die er sein Herz verloren hat, gehen. Das ist es, was Christenmenschen heute glauben dürfen; ganz schlicht, ganz edel!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahrt eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
1 https://www.reformiert-info.de/Gebet_zum_4._Sonntag_nach_Trinitatis-7320-0-84-9.html (Stand: 04.07.2025).
2 Johannes Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift (NF). Johannes Calvins Auslegung der Genesis, übers. u. bearb. v. Wilhelm Goeters u. Matthias Simon, neue, durchgearbeitete Ausgabe, Neukirchen 1956, 486.
3 Gen 50,17c ist für mich die Zäsur der Perikope, weil sie von der Angst der Brüder zum Edelmut Josefs überleitet, und zwar mittels des Schmerzes Josefs.
4 Darin erinnert er an neutestamentliche Figuren wie Jesu Lieblingsjünger, Johannes unterm Kreuz, der Maria, die Mutter Jesu, tröstet und zu sich nimmt (Joh 19,26-27). Er erinnert auch an seinen Urgroßvater Abraham, der seiner Frau, Sara, in fremdem Land eine Grabstätte erwirbt (Gen 23,4), nachdem er sie herzlich beweint hat (Gen 23,2).
5 In seiner Auslegung der 5. Bitte wirbt Karl Barth: „Richten wir uns nicht häuslich ein in den Beleidigungen, die uns angetan worden sind, gefallen wir uns nicht darin! Bewahren wir ein wenig Humor im Blick auf unsere Beleidiger! Haben wir doch für die anderen diese kleine Bewegung der Vergebung, der Freiheit!“ (vgl. Ders., Das Vaterunser – nach den Katechismen der Reformation, übers. v. Helmut Goes, Zürich 1965, 96).
Dennis Schönberger


