gefühlt
Sie sei gefühlt vor hundert Jahren zum letzten Mal gereist, sagt die Nachbarin in Corona-Isolation. Bei Biese sei es gefühlt fünf Grad kälter, warnt der Meteorologe. Auf der Demo seien gefühlt Zehntausend gewesen, berichtet die Journalistin in den Abendnachrichten. Gemeint ist geschätzt.
Warum erlebt das schöne Wort fühlen diesen Boom? Sachlich, wo eine exakte Messung gescheit wäre, und sprachlich als ablativus absolutus, den es im Deutschen gar nicht gibt. Messen und Fühlen sind beileibe zwei verschiedene Vorgänge: Schmerz kann ich fühlen, der keine messbare Ursache hat. Blicke im Rücken kann ich fühlen, deren Augen ich nicht sehe. Fühlen ist subjektiv. Wieso gefühlvoll davon reden, wenn objektive Messung eher hülfe?
Ich vermute, die Welt des Objektiven in ihrer kalten Rationalität lässt mich, so wahr ihre Messungen auch sind, kalt und frieren, macht mich sprachlos und ratlos, mögen ihre Ankündigungen noch so richtig sein. Entzug an Mobilität berührt, nicht ungeflogene Meilen. Eiseskälte auf der Haut berührt, nicht Grade in Celsius. Totalitär versagte Freiheit berührt, nicht das exakte Total Demonstrierender.
Ich vermute, wo gefühlt sich modisch in den Satz schleicht, macht sich ein Defizit hörbar: Information an sich ist kalt. Nur in ihrer Bedeutung für mich wird sie fühlbar, geht sie mir unter die Haut, setzt sie mich vorwärts in Bewegung. Das ist vergleichbar mit der Nachricht, da sei einer unschuldig am Kreuz gestorben: Objektiv gemessen verschwindet sie in den Compactus-Anlagen der Geschichte. Erst das für mich, das pro nobis, macht sie fühlbar und zu einer guten Nachricht für viele: gefühlt eine Sensation. Religion ist die subjektive Seite des Messbaren. Ohne sie erfriert der Mensch.
MK