Es gibt viel zu tun für den Frieden

Predigt über eine Vision des Friedens angesichts des Krieges in der Ukraine - von Georg Rieger


© Ronja Raps

Nachrichten zu schauen ist gerade realer Horror. Nicht, dass wir nicht Gewalt und Grausamkeiten zu sehen gewohnt sind. Es ist mehr die Sinnlosigkeit und der Rückfall in düstere Zeiten, der uns erschreckt und hilflos macht. Aber dass es nichts zu tun gibt, das stimmt dennoch nicht.

Liebe Gemeinde, ich habe lange überlegt, wie ich einen Einstieg in diese Predigt finde. Und ich habe nach mehreren anderen Versuchen beschlossen, ganz persönlich anzufangen:

Als Jugendlicher war ich in der Friedensbewegung engagiert. Damals standen sich die Weltmächte USA und UDSSR gegenüber. Die Demarkationslinie damals verlief mitten durch unser Land. Wir haben leidenschaftlich dagegen demonstriert, dass amerikanische Atomwaffen in Deutschland stationiert werden sollten. Die waren sie zur Abschreckung gedacht. Sie wären aber natürlich auch das erste Ziel gewesen. Ein Krieg zwischen den beiden Blöcken im Osten und im Westen hätte möglicherweise Mitteleuropa unbewohnbar gemacht.

In diese Situation hinein kam 1983 die Friedenserklärung des Reformierten Bundes, in der es hieß, dass Massenvernichtungsmittel nicht nur politisch ein falscher Weg, sondern mit dem Glauben an Gott nicht vereinbar sind. Diese These haben wir in der Gemeinde heiß diskutiert und auch in der Synode. Und diese Botschaft „Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungsmitteln“ stand auf den lila Tüchern, die zum Bild der großen Friedensdemonstrationen gehörten. Eines davon habe noch und habe es mitgebracht.

Seither ist viel passiert. Die Mauer ist gefallen und der sogenannte Ostblock hat sich aufgelöst. Es gab auch Schritte der Abrüstung. Vor allem aber gerieten die Atomwaffen in Vergessenheit. Ich habe vorhin im Konjunktiv formuliert, um Sie au die falsche Fährte zu locken. Irgendwie denken wir doch alle, die wären nicht mehr da. Diese Atomwaffen sind aber nach wie vor stationiert und bereit zum Abschuss.

Der kalte Krieg ist im Großen und Ganzen ein kalter geblieben. Die Generalsekretäre der Kommunistischen Partei haben zwar mit harter Hand regiert, aber sie waren sich auch ihrer Verantwortung bewusst. Und es ist glücklicherweise nie etwas schief gegangen. Jetzt ist ein Krieg ausgebrochen, um die Demarkationslinie neu einzurichten und gleich zu verschieben: Die Ukraine soll in die russische Einflusssphäre einverleibt werden. Das ist ein Baustein in dem Machtkalkül eines Mannes und seiner Großmachtphantasien. Und vielleicht haben Sie es mitbekommen: Ein Teil des Manövers war, dass er uns in den Tagen vor dem Angriff genau diese schlimmsten Waffen noch einmal gezeigt hat – die Atomraketen.

Zu Zeiten der Friedensbewegung in den 80er und 90er Jahren war eine der biblischen Texte, die uns inspiriert haben, einer im Buch des Propheten Micha. Ein Bild, das der Prophet verwendet, war sogar das inoffizielle Logo der Friedensbewegung, die es übrigens im Osten und im Westen gab.

Micha 4,1–5

Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht felsenfest. Er ist der höchste Berg und überragt alle Hügel. Dann werden die Völker zu ihm strömen. Viele Völker machen sich auf den Weg und sagen: »Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Haus, in dem der Gott Jakobs wohnt! Er soll uns seine Wege weisen. Dann können wir seinen Pfaden folgen.« 
Denn vom Berg Zion kommt Weisung. Das Wort des Herrn geht von Jerusalem aus. Er schlichtet Streit zwischen vielen Völkern. Er sorgt für das Recht unter mächtigen Staaten, bis hin in die fernsten Länder. Dann werden sie Pflugscharen schmieden aus den Klingen ihrer Schwerter. Und sie werden Winzermesser herstellen aus den Eisenspitzen ihrer Lanzen. Dann wird es kein einziges Volk mehr geben, das sein Schwert gegen ein anderes richtet. Niemand wird mehr für den Krieg ausgebildet. Jeder wird unter seinem Weinstock sitzen und unter seinem Feigenbaum. Niemand wird ihren Frieden stören. Denn der Herr Zebaot hat es so bestimmt. Noch rufen viele Völker, jedes zu seinem eigenen Gott. Wir aber leben schon heute im Namen desHerrn, unseres Gottes, für immer und alle Zeit.

Was Micha da schreibt, liebe Gemeinde ist zu schön, um wahr zu sein. Und es ist wie ein Schlag ins Gesicht der Menschen in der Ukraine, die jetzt in Kellern und U-Bahnhöfen sitzen oder auf der Flucht sind. Warum ist nicht längst eingetreten, was der Prophet vor etwa 2750 Jahren vorhergesagt hat? Warum jetzt sogar genau das Gegenteil? Ist also der Predigttext also falsch gewählt? Wäre nicht ein Klagepsalm passender? Ist jetzt der Moment für Visionen?

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, das hat Helmut Schmidt 1986 in Hamburg auf dem Kirchentag genau uns Jugendlichen so entgegengeschleudert und die Friedensbewegung damit lächerlich machen wollen. Und fast scheint es ja wieder so zu sein: Die friedliche Option, das Verhandeln, Vertrauen, Abrüsten wird lächerlich gemacht. Es ist gescheitert! heißt es überall. Und es war von Anfang an falsch – wissen jetzt manche im Nachhinein besser. Und deshalb müssen wir nun zuschauen, weil wir ihm auf den Leim gegangen sind.

Liebe Gemeinde, das ist das erste, was wir tun können: Solchen Reden nicht glauben, die das Bemühen um Frieden lächerlich machen. Versäumnisse gab es – und zwar auch schlimme. Und auch falsche Prioritäten. Aber die sind die nicht dadurch gut zu machen, dass wir nun verbal aufrüsten und uns die Logik des Krieges zu eigen machen.

Das zweite, was wir tun können, ist: Unsere Betroffenheit gut dosieren. Nicht wir leiden unter dem Krieg, sondern die Menschen in der Ukraine. Und die brauchen unser Mitgefühl auch noch in einigen Wochen, Monaten, vielleicht Jahren. Auch dann noch, wenn andere Themen sich vordrängen. Die Kabarettistin Sarah Bossetti hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Aufregung über Afghanistan riesig war. Und heute weint keiner mehr eine Träne über das, was dort passiert.

Was gibt es noch zu tun? Es wird auch praktisch einiges zu tun geben, liebe Gemeinde. Denn es kommen viele Menschen nach Deutschland, die hier aufgenommen werden wollen. Und auch hier wäre es gut, wenn die Hilfsbereitschaft von Dauer ist. Es wird auch Geld brauchen für die Hilfsorganisationen, die in der Ukraine Verletzte versorgen und Not lindern.

Vor allem aber gibt es viel zu tun, damit die Worte des Propheten Micha nicht verhallen. Das hilft den Menschen in der Ukraine jetzt nicht, aber es wird helfen, damit so etwas nicht öfter passiert.

Diese Vision ist eine Endzeit-Vision. Der Abschnitt beginnt mit: Am Ende aller Tage… Aber warum erzählt er uns das, wenn es doch erst dann passiert, wenn eh alles zu spät ist?

Denken Sie einmal an eine Person, mit der sie so richtig im Clinch liegen – also so richtig und schon länger.  Und nun stellen Sie sich vor, dass Ihnen eine gute Fee (das funktioniert einfach besser als mit Gott – ich weiß auch nicht warum), dass Sie sich mit dieser Person in fünf Jahren bestens verstehen werden.

Wie werden Sie von jetzt an mit diesem Menschen umgehen? Nicht um den Hals fallen. Kritisch. Vorsichtig. Aber eben auch mutiger. Mal einen Versuch freundlich zu sein. Und wenn eine blöde Reaktion kommt, nicht gleich einschnappen, sondern nochmal probieren. Es wird ja irgendwann funktionieren. Vielleicht auch schon bald, denn die fünf Jahre besagen ja nicht, dass nicht schon vorher alles anders wird.

So funktionieren Visionen, wenn wir sie ernst nehmen, liebe Gemeinde! Sie verändern uns. Sie verändern unser Verhalten. Und zwar viel mehr als wir das vorher denken. Wir sind auch plötzlich bereit einen Preis zu zahlen, Rückschläge hinzunehmen – weil wir ja wissen, wo es hin geht.

Es kann schon in wenigen Wochen, vielleicht auch erst in Jahren eine Situation entstehen, in der wieder Verhandlungen möglich sind – nötig sind. Dann braucht es Vorsicht und Misstrauen. Aber auch Vertrauen und Mut. Der Prophet Micha und auch die meisten seiner Kollegen hatten solche Visionen. Und das Leben des Jesus war in gewisser Weise eine einzige Vision. Wir können uns mit diesen Visionen beschäftigen und sie zu Leitgedanken auch der Politik machen – dazu haben wir in einer Demokratie die Möglichkeit. Oder wir können weiter der Logik von größtmög­lichem Gewinn und Machtkämpfen folgen.

Damit ist übrigens nicht gemeint, dass es unsinnig ist, sich – und auch ein Land mit seinen Menschen – zu verteidigen. Das abzusprechen wäre zynisch. Allerdings sollte es freiwillig geschehen. Sich zu ergeben oder zu fliehen, muss jedem möglich sein. Mit zu dem Traurigsten gehören die Berichte von Familien, von denen an der Grenze die Männer abgehalten und eingezogen werden. Frauen und Kinder müssen alleine weiter und ahnen, dass sie sich vielleicht nie wiedersehen. So funktioniert der Krieg. 

Dem müssen wir unsere Vision von einem friedlichen Zusammenleben aller Völker entgegenstellen. Es braucht nicht mehr Waffen und höhere Verteidigungsausgaben, sondern eine neue Friedensbewegung in Europa. Und es braucht uns alle, dass wir den Mut aufbringen an Visionen zu glauben – auch in unserem kleinen Leben macht das Sinn. Amen.

Georg Rieger, Pfarrer der Evangelisch-reformierten Gemeinde St. Martha in Nürnberg 
Predigt gehalten am 27. Februar 2022


Georg Rieger