Will Gott das?

Predigt zu Mt 26, 36-44


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Von Gudrun Kuhn

Im Berliner Sportpalast ist die Luft stickig an diesem 18. Februar 1943, die schneidende Stimme des Propagandaministers überschlägt sich immer wieder. Mag sein, viele der 15 000 Anwesenden sind erschöpft. Mag sein, die meisten sind nicht wirklich freiwillig da. Dann aber – so ist es dokumentiert – brüllende Zustimmung, Aufspringen, hysterische Schreie:
Wollt ihr den totalen Krieg?

Vor der Kathedrale von Clermont hat sich eine erwartungsvolle Menge versammelt an diesem 27. November 1095. Mehrere Tage hatte die Synode beraten, nun tritt Papst Urban II. ins Freie. Vom gerechten Krieg spricht er, und von der christlichen Pflicht, gegen die Ungläubigen ins Heilige Land zu ziehen. Lange spricht er wohl und eindrucksvoll. Und nach und nach wird der Ruf der Anwesenden lauter und lauter:
deus lo vult, dieu le veuilt, Gott will es.

Die da geschrien haben, glaubten daran, dass sie wollten, was sie wollen, glaubten daran, dass Gott wolle, was sie wollen. Zumindest einen Moment lang glaubten sie daran. Später hat­­ten sie es dann doch nicht gewollt, später zweifelte man dann doch daran, dass dies  Gottes Wil­le gewesen sei, mochte nicht mehr daran erinnert werden, dass man sich von Propaganda verführen ließ.

Was hat es auf sich mit dem Wollen? Längst ist es unentscheidbar geworden, inwieweit oder ob man von menschlicher Willensfreiheit sprechen kann. – Vom Willen Gottes ist nach wie vor die Rede. In unseren Chorälen, in der Bibel, im Vaterunser. Fortwährend wird Gott nach mensch­­lichem Bild geschaffen, eine Person, ein Mann, eine Figur aus einer längst ver­gange­nen Epoche.

Was mein Gott will, das g’scheh allzeit
Sein Will der ist der beste.

Dieser Choral, der 1554 in Nürnberg gedruckt wurde, überträgt auf Gott den Willen eines ab­so­luten Herrschers. Des Herrschers über seine Untertanen, des Vaters oder Bruders oder Ehe­manns über die Mädchen und Frauen. Wie soll ich vertrauen auf einen solchen Gott?

Zu helfen ist er stets bereit,
den’n, die ihm glauben feste.

Dieser Choral, den Johann Sebastian 1727 in die Matthäuspassion eingebunden hat, überträgt auf die Gläubigen die Mentalität von Untertanen. Der Untertanen, die sich die Hilfe des Herr­schers durch ihre kind­li­che Unterwerfung verdienen. Wie soll ich vertrauen auf einen solchen Gott? 

Was mein Gott will, das g’scheh allzeit

Dieser Choral nimmt einen zentralen Satz aus der Gethsemane-Erzählung auf, aus dem  Pre­digt­text für den heutigen Sonntag (Mt 26,36-44  (Luther 2017):

36Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. 37Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38Da sprach Jesus zu ihnen: Mei­ne Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! 39Und er ging ein wenig wei­ter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe die­ser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! 40Und er kam zu sei­nen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stun­de mit mir wachen? 41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist wil­lig; aber das Fleisch ist schwach. 42Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so ge­schehe dein Wille! 43Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren vol­ler Schlaf. 44Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete aber­mals dieselben Worte.

Zu den Jüngern gehe ich. Schlafen. Nichts als schlafen. Die Augen schließen. Nichts mehr sehen von der Gewalt und dem Leid in der Welt. Schlafe, was willst du mehr. Was hätte mein Gebet geändert? Wäre meine Bitte erhört worden, dass Jesus endlich zur Ver­nunft kommt und flieht? Hatten wir ihn nicht davor gewarnt nach Jerusalem zu gehen? Hat­ten wir ihn nicht auf dem Weg hierher noch angefleht, das Weite zu suchen?

So schnell wie mög­lich zurück nach Galiläa. Wäre meine Bitte erhört worden, dass Blitze und Donner und Wolken über uns hereinbrechen, wenn die Polizei kommt und ihn verhaften will. Wä­re meine Bitte erhört worden, dass dieser römische Gouverneur sich von Jesu Unschuld über­zeugen lässt. Dass den falschen Zeugen ihre Lügen im Hals stecken bleiben. Dass die Fol­terer die Hand sinken lassen. Nein. Aber – so möchte ich Georg Büchner nachsprechen – aber ich, „wär’ ich allmächtig, [...] wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können.“1

Zu den Verfassern der Passionsgeschichte mache ich mich auf. Keine Chance, die Augen zu schlie­­ßen und zu verschließen. Allerorten greift man die Nachfolgegemeinschaft Jesu an. Spöt­tisch und aggressiv. Was wollt ihr mit einem Messias, dem Gott nicht geholfen hat? Einem Ab­weichler und Rebellen. Was hilft euch einer, der sich selbst nicht helfen konnte? Haben sie ihm nicht zugerufen, er solle vom Kreuz steigen? Seht endlich ein, dass Gott ihn verlassen hat!

Ich suche nach einer Jesus-Erinnerung, die in die Geth­se­mane-Erzählung eingekleidet ist. Was wollen die Evangelisten sagen mit ihren Jesus­worten?

Jesu Verlassenheit, seine Todesangst – sie machen uns erschrecken. Da zieht kein hel­den­haf­ter Märtyrer in den Tod. Ein von den Freunden alleine Gelassener, ein Verzweifelter fleht da­rum, den Häschern und Folterern zu entgehen. Doch erzählt wird vor allem etwas anderes. Die Evan­ge­listen haben die grausame Situation mit der Gottesfrage aufgeladen. Sie ist der eigent­liche In­halt von Jesu Gebet, dessen Zeugen sie nicht waren, das sich jeder Vor­stel­lungs­kraft ent­zie­hen muss. Eine Antwort auf die Gottesfrage sollte die verschreckte Gemeinde er­hal­ten. Sie lau­tet: Der Kreuzestod ist Gottes Wille, in den Jesus sich fügt. Weil es offensichtlich nicht mög­lich ist, dass Gott seinen Erwählten davor bewahrt.  Nicht möglich. Vermag Gott es nicht? Oder will er es nicht? Will er Jesu Tod?

Von meinen Glaubenslehrern will ich Auskunft darüber. Wieder und wieder spiele ich sie ab: die Gethsemaneszene aus der Matthäuspassion. Sie nimmt uns suggestiv mit hinein in das Bekenntnis des eigenen Versagens: Einschlafen statt mit Jesus zu wachen. Die Frage nach dem Willen Gottes freilich wird nicht gestellt. Statt­des­sen:

Gerne will ich mich bequemen
Kreuz und Becher anzunehmen,
trink ich doch dem Heiland nach.

Eine moralisierende Brücke führt über die theologischen Abgründe.2 Jesu Gottesergebenheit als Vorbild für das eigene Leben.

Dann vielleicht doch eher den Heidelberger Katechismus, Frage 40:

Warum hat Christus den Tod leiden müssen?
Darum, dass wegen der Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes nicht anders für unsere Sünden mochte bezahlt werden, denn durch den Tod des Sohnes Gottes.

Ja, so habe ich es im Konfirmandenunterricht gelernt. Und die Jüngeren unter Ihnen kennen es zumindest aus den Passionsliedern. Da waren sich unsere Reformatoren untereinander einig. Calvin und Zwingli mit Luther. Und alle zusammen mit Anselm von Canterbury. Der hatte im 12. Jahrhundert Gottes Willen erklärt. Unmöglich sei es für ihn, dem Menschengeschlecht den Sündenfall einfach zu verzeihen. Zu sehr sei er – Gott – in seiner Ehre beleidigt worden. Sei­ner Gerechtigkeit und Wahrheit müsse Genugtuung geleistet werden. Genugtuung – Satisfaktion. Das klingt nach einem Duell. Das klingt nach einem gerechten Krieg. Einem totalen Krieg. Einem Vernichtungs-Kreuzzug.

Und jetzt mögen Sie vielleicht einwenden: Aber wir hören doch immer von der Liebe Gottes. Ja, das weiß Anselm schon auch. Aber Barmherzigkeit übt Gott, indem er seinen geliebten Sohn die Satisfaktion leisten lässt, zu der die sündigen Menschen nicht fähig sind. ‚Vater, ist’s möglich, dass mir dieser Tod erspart bleibt‘ – so fragt Jesus. Nein, sagt der Katechismus, es ist nicht möglich. Und Generationen von Theologen bieten die äußerste Klugheit auf, um dies zu beweisen.

Eine zynische Logik macht aus den Erzählungen der Evangelisten eine un­wider­leg­­bare Schlussfolgerung. Ihr Gott hat einen Willen, der nach menschlichen Maßstäben funk­tio­niert. Ihr Gott ist eine Person, die dem Ehrenkodex der Ständegesellschaft verpflichtet ist. Er kann Beleidigungen nicht verzeihen. Er muss die Sünder strafen. Es sei denn ... Ja, es sei denn, ein Unschuldiger nimmt die Strafe stellvertretend auf sich und opfert sein Leben dem ge­rechten Zorn.  

Das also – so lese und höre ich – ist  der Wille Gottes, dem sich Jesus fügt. Und ich laufe weg aus den Lehrsälen und Kathedralen der Vergangenheit. Ich verweigere mich den Pas­sions­cho­rälen. Ich verstumme beim Beten. Warten sie bereits milde lächelnd auf mich, die phi­lo­so­phi­schen Christentumskritiker, dass ich endlich die Bibel hinter mir lasse. Schon stehe ich mit einem Fuß in ihrem behaglichen Club.
Oder gelingt es, den Gottesbegriff‘ zu befreien aus dem Gefängnis traditioneller Zu­schrei­bun­gen? Nach menschlichem Bild geschaffen, eine Person, ein Mann, eine Figur aus einer längst ver­gange­nen Epoche.

Da fallen mir Bilder aus der Kindheit ein. Kitschig die meisten, aber eindrucksvoll. Sie zeigen eine andere Gethsemane-Szene, die nachträglich in einige Hss des Lukasevangeliums ein­ge­tra­­gen wurde. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. (Lukas 22,43) Der Engel kann nicht erklären, dass unaufhaltsam geschehen wird, was Jesus mit seinem Auftreten in Je­rusalem provoziert hat. Der Engel will Gottes angeblichen Willen nicht deuten. Der Engel stärkt ihn. So wird aus der Gethsemane-Geschichte eine Geschichte vom Mit-Gehen Gottes. Vom Mit-Gehen ins Leiden. Vom Mit-Gehen in den Tod. Hans Jonas, der jüdische Philosoph,  hat für solche Gedanken eine Spur gelegt in seiner Rede Der Gottesbegriff nach Auschwitz.3  Ihr will ich folgen.

Unser Denken und Reden von Gott wird nie ganz abstrakt möglich sein. Aber: Wir müssen un­sere Bilder und Geschichten immer wieder ändern, weil Gott sich ändert. Das jedenfalls sagt uns Jonas: Um die Welt entstehen zu lassen, gibt Gott sich selbst auf und liefert sich dem Werden aus. Damit eröffnet er die unendlichen Möglichkeiten des kosmischen Seins. Der Preis dafür ist die Vergänglichkeit und das Nebeneinander von ‚Gut‘ und ‚Böse‘. Von dem, was uns leiden macht. Ein allmächtiger Gott jen­seits der Welt, ein göttlicher Wille, der über allem steht, ein wundermächtiger Gott, der in die Na­tur eingreift – von diesen Projektionen habe ich mich verabschiedet.

Viele christliche Theo­logen und Theologinnen tun dies längst. Ein Gott, dem es möglich wäre, Jesus vor Folter und Tod zu bewahren, ist nicht mehr vorstellbar. Ein Gott, dessen Wille es ist, dass Jesus stell­vertretend die Menschheit vor der Strafe ihres eigenen Schöpfers bewahrt, ist eine Zu­mu­tung. Gott „entkleidete sich seiner Gottheit.“ So Hans Jonas. „Er äußert‘ sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering. Und nimmt an sich eins Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“ So der christliche Choral. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich.“ So Paulus. (2. Kor. 5,19)

Gott schickt in der Gethsemane-Erzählung seinen Engel, um Jesus zu stärken. So geht er mit ihm. So sorgt er sich um ihn. Doch Gott ist kein „Zauberer“, so noch einmal Hans Jo­nas: „Etwas hat er an­dern Akteuren zu tun gelassen und hat damit seine Sorge von ihnen ab­hängig gemacht.“4 Aber „etwas von ihm – von seinem Willen [... hat er den Menschen] kundgetan. [...] Wir be­sit­zen seine Gebote.“5

Ich weiß nicht, ob Sie mit mir dieser Spur folgen mögen. Mir hilft sie, den heutigen Predigttext auszuhalten. Durch Widerspruch auszuhalten. Doch Hans Jonas selber gibt am Ende seiner Rede zu bedenken: All dies ist Gestammel.6

Gestammel sind auch unsere Gebete. Aber nachher wage ich gemeinsam mit Ihnen zu spre­chen: Dein Wille, Gott, geschehe wie im Himmel so auf Erden. Jesus ist für uns Christinnen und Christen der real ge­wordene Wille Gottes. Dass werde, was er war, ist unsere Hoffnung und unsere Pflicht. Mit den Worten von Marianne Reifers:7

Er hat mit dem Einsatz seines Lebens dich, Gott, auf Erden vorgelebt
Sein Gesicht ist offen
Er lügt nicht
Er spielt sich nicht auf
Seine Autorität kommt nicht aus Machtgehabe sondern aus der Intimität mit dir
Sein Interesse an den Menschen ist echt
Er ist da für sie ohne Hintergedanken
Er holt sich seine Lobby nicht bei den Wohlhabenden sondern bei den Nichtsgeltenden 
Er fürchtet sich nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen sondern lässt sich von ihnen berühren und berührt sie
Unrecht rächt er nicht mit Gewalt aber er setzt sich für Recht und Würde ein
Er ist kein religiöser Schwafler er tut was er glaubt mit Mut und Überzeugung
Er hat auch mich überzeugt und darum bin ich da, Gott, und glaube.  

AMEN

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1 Georg Büchner: Lenz. Aufbau-Verlag (Büchners Werke). 1967. S.133

2 „Kein Theologe hat je ernstlich zu sagen gewagt, Gott hätte seinen Heilswillen nicht auch ohne das Opfer seines Menschensohnes vollziehen können.“ So habe das „weltalterlange Versagen der Ausle­ger“ die „gewaltigste Musik [...] an dieser Stelle in ihrer Mächtigkeit erlahmt.“ Hans Blumenberg: Matthäuspassion. FfM 1988. S.198

3 Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Berlin 2016 (1988)

4 S. 14

5 S. 17

6 S.21

7 www.fromapp.org, Gebet vom 17. Februar 2022


Gudrun Kuhn