Lebendige Steine

Predigt zu 1. Petr 2, 1-10 - 6. Sonntag nach Trinitatis

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Oft wünschen wir uns, Verantwortung auf Heilige, Priester oder Prominente zu übertragen. Dabei meint Christsein kein passives Bewundern, sondern aktives, solidarisches Handeln in einer oft brüchigen Gemeinschaft.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! AMEN.

“Ach, wie war es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem” - so beginnt die Geschichte von den komischen Kerlchen, die einst in Köln so fleißig halfen, alle möglichen unangenehmen Tätigkeiten zu verrichten, bis die Neugier der Beglückten sie verdross und die schönen Zeiten jäh endeten.

Ach, wie ist es doch von Vorteil, liebe Schwestern und Brüder, wenn man Verantwortung bei jemandem abladen, sich hinter anderen verstecken oder auf fremde Verdienste verweisen kann, um selbst Entlastung zu finden!

Genau so funktioniert das Konzept der Heiligen im Sinne der Katholischen Kirche: Ihre Perfektion führt uns nicht nur vor Augen, dass wir in einer ganz anderen Liga spielen; freundlicherweise lassen sie sich auch bitten und gewähren den Durchschnittschristen, unverdientermaßen von ihren Verdiensten zu profitieren.

Das ist, einerseits, theologisch aus evangelischer Sicht nicht haltbar. Andererseits können wir Gott dafür danken, dass es solche Menschen gibt, die in die Tat umsetzen, wovon andere immer nur reden - teils voller Bewunderung für so viel Willensstärke und Konsequenz, teils voller Bedauern darüber, dass man selbst leider nicht die Kraft aufbringt, den inneren Schweinehund zu besiegen, um mit sich selbst und mit Gott in Einklang zu leben.

Auch der Priester, der fromme Vorbeter - am besten jemand, der sich durch eine asketische Lebensführung von “normalen Menschen” deutlich unterscheidet, indem er beispielsweise unverheiratet bleibt - auch der “Geistliche” hat für andere solch eine Entlastungs- und Stellvertreterfunktion:

Er stellt sich vor die Gemeinde und betet, um unser Verhältnis mit Gott in Ordnung zu bringen, wofür man als “normaler Sterblicher” sich nicht genug Zeit nimmt oder vermeintlich zu wenig Übung hat oder sich gar für viel zu unwürdig hält, weil man in seinem Leben schon zu viele Entscheidungen getroffen hat, die in eine andere Richtung zielten als hin zur Erfüllung von Gottes Willen.

Sündenböcke und Helden gibt es auch in anderen Lebensbereichen wie etwa der Politik, besonders aber beim Sport und im Kulturbetrieb. Promis sind - je nach Bedarf - an allem schuld, was uns unzufrieden macht, oder sie streiten, siegen, lassen uns als Zuschauer daran teilhaben und vermitteln so das Gefühl, wir stünden mitten in jenem Leben, das sie führen (oder auch vorgaukeln), während wir eigentlich nur Couchpotatoes sind.

“Wir sind Papst” hieß es dereinst - eine geniale Schlagzeile der Bildzeitung, das muss man ihr lassen. Und ebenso sind “wir” - je nachdem - Weltmeister oder Deutscher Meister oder was auch immer; wie unsportlich man selbst auch sein mag - die Identifikation mit “unserem Team” gibt uns Anteil an deren Triumph und wird gefeiert wie ein gewonnener Krieg.

Als lebten wir in einer Monarchie, wird den Worten und Taten der Regierenden so viel Gewicht beigemessen, als hinge von diesen auf Zeit gewählten Volksvertretern unser ganzes Wohl und Wehe ab. Was auch immer das Volk an Problemen artikuliert - Priestern gleich bringen Politiker Befindlichkeiten zum Ausdruck und weisen uns ihren Weg zum Heil. Solange sie es verstehen, fremde Opfer darzubringen, folgt man ihnen gern; aber wehe, sie wagen es, uns Änderungen unseres Lebensstils zuzumuten oder gar Verzicht zu fordern!

Dann schreien die Unzufriedenen und drohen für das nächste Mal eine Denkzettel-Wahl an. Wie man vor allem in den östlichen Bundesländern ablesen kann, wünschen sich immer mehr Zeitgenossen jene vorgeblich „guten alten Zeiten“ zurück, da man sich nicht ewig mit Diskussionen aufhielt, an deren Ende sowie meist faule Kompromisse stehen, wo statt dessen einer klar gesagt hat, wo‘s langgeht, und die anderen hatten das dann eben zu machen - basta!

In der abendländischen Kirche ist schon vor über 500 Jahren mit diesem autoritären Prinzip Schluss gemacht worden. Wir Protestanten haben die Heiligen abgeschafft und den letztverantwortlichen Oberpriester auch.

Aber nun haben wir den Schlamassel, dass niemand mehr verbindlich festlegt, was eigentlich gilt; da kann jeder beinahe glauben, was er will, und natürlich lässt sich niemand den Lebensstil mehr von den Kirchenleuten vorschreiben, zumal ja kaum zwei Pfarrer dasselbe sagen, wenn man sie zu theologischen oder ethischen Problemen befragt.

Hat das niemand kommen sehen damals? Wie konnten wir nur so naiv sein? Oder war es gar fahrlässig, den Diskurs über “richtig” und “falsch”, “Wahrheit” und “Irrtum” freizugeben?

Einer der biblischen Schlüsseltexte, der besagt, dass wir das nicht nur tun konnten, sondern sogar mussten, ist uns für heute zur Auslegung empfohlen. Ich lese die ersten zehn Verse des zweiten Kapitels vom 1. Petrusbrief:

1 Legt alle Bosheit und allen Betrug ab, alle Heuchelei, allen Neid und alle Verleumdung!

2 Genauso, wie ein neugeborenes Kind auf Muttermilch begierig ist, sollt ihr auf Gottes Wort begierig sein, auf diese unverfälschte Milch, durch die ihr heranwachst, bis das Ziel, eure endgültige Rettung, erreicht ist.

3 Ihr habt von dieser Milch ja schon getrunken und habt erlebt, wie gütig der Herr ist.

4 Kommt zu ihm! Er ist jener lebendige Stein, den die Menschen für unbrauchbar erklärten, aber den Gott selbst ausgewählt hat und der in seinen Augen von unschätzbarem Wert ist.

5 Lasst euch selbst als lebendige Steine in das Haus einfügen, das von Gott erbaut wird und von seinem Geist erfüllt ist. Lasst euch zu einer heiligen Priesterschaft aufbauen, damit ihr Gott Opfer darbringen könnt, die von seinem Geist gewirkt sind – Opfer, an denen er Freude hat, weil sie sich auf das Werk von Jesus Christus gründen.

6 Gott sagt ja in der Schrift: »Seht, ich verwende für das Fundament auf dem Zionsberg einen Grundstein von unschätzbarem Wert, den ich selbst ausgewählt habe. Wer ihm vertraut, wird vor dem Verderben bewahrt werden.«

7 Euch also, die ihr glaubt, kommt der Wert dieses Steins zugute. Doch was ist mit denen, die an ihrem Unglauben festhalten? Es heißt in der Schrift:

»Der Stein, den die Bauleute für unbrauchbar erklärten, ist zum Eckstein geworden.«

8 Und an einer anderen Stelle heißt es: »Es ist ein Stein, an dem sich die Menschen stoßen, ein Fels, an dem sie zu Fall kommen.« Sie stoßen sich an diesem Stein, wie es allen bestimmt ist, die nicht bereit sind, Gottes Botschaft Glauben zu schenken.

9 Ihr jedoch seid das von Gott erwählte Volk; ihr seid eine königliche Priesterschaft, eine heilige Nation, ein Volk, das ihm allein gehört und den Auftrag hat, seine großen Taten zu verkünden – die Taten dessen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.

10 Früher wart ihr nicht Gottes Volk – jetzt seid ihr Gottes Volk. Früher wusstet ihr nichts von seinem Erbarmen – jetzt hat er euch sein Erbarmen erwiesen.

Ich vermute, liebe Gemeinde, dass der verstorbene Papst Franziskus mit unserem Bibelabschnitt noch größere Probleme hatte als mit jener Passage des Hebräerbriefes, in der davon die Rede ist, dass wir nur einen Hohenpriester haben, nämlich Christus; denn diese Aussage lässt sich nach katholischer Auffassung so interpretieren, dass unser himmlischer Hohepriester Christus durch seinen irdischen Vikar vertreten wird.

Hier aber heißt es, wir alle, die wir getaufte Christen sind, sind Priester - ein ganzes Volk von Priestern, zum Heil in Christus bestimmt, ausgesucht zum Herrschen mit Christus, unserem Oberpriester und König der Welt, nicht bestimmt zur Unterordnung unter menschliche Hierarchien, seien es kirchliche oder weltliche.

Das ist immerhin schon eine Demokratisierung des eben erwähnten Herrschaftsprinzips - oder eigentlich müsste ich besser sagen: eine Theokratisierung; denn es geht ja nicht um eine Herrschaftsausübung durch Mehrheitsbeschluss, sondern darum, dass Gottes Reich in dieser Welt zum Vorschein kommt.

Zwar ist auch im 1. Petrusbrief von Heiligen die Rede, und das Prinzip der Stellvertretung ist zu erkennen; aber uns ist die bequeme Zuschauerrolle entzogen.

Gott beruft alle Menschen, die zu ihm gehören, in den Dienst an der Welt. „Heilig“ ist nämlich kein Attribut der Frömmigkeit oder moralischer Qualität; heilig sind Gott all jene Menschen, die das Heil in Christus angenommen haben. Unser priesterlicher Dienst besteht nun darin, für alle Welt Fürbitte zu halten und in Wort und Tat das Heil in Christus zu bezeugen. Einen Tempel aus lebendigen Steinen will Gott bauen, dessen Fundament Jesus Christus ist. Weniger mit Glockenläuten sollen wir der Menschen Aufmerksamkeit erregen, und sie sollen auch nicht nur Kunstschätze bestaunen, wenn sie das Innere eines Gotteshauses betreten.

Wer zu uns kommt soll staunen, aber auch stolpern über die Botschaft, die hier gelebt und verkündigt wird, wenn wir Gottes große Taten verkünden – die Taten dessen, der uns aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. Verlorene einzelne finden hier ein Zuhause, sind eingebunden in eine große Gemeinschaft, die auf Nächstenliebe basiert statt auf Konkurrenzkampf. Nicht „Verdienst und Würdigkeit“ entscheiden darüber, wen Gott zum Tischgenossen erwählt, sondern allein unsere Bedürftigkeit und Gottes Barmherzigkeit.

Christus hat sein Leben dafür eingesetzt, dass wir dem Tod entrinnen. Doch dieses Erzählen von Gottes großen Taten kann sich nicht allein auf unsere sonntäglichen Gottesdienste beschränken; denn da sind wir ja quasi „unter uns“. Es geht aber gerade darum, jene anderen Menschen zu erreichen, die - auch wenn sie das selbst nicht so sehen - noch in der Finsternis sind, aus der Gott sie herausholen will in sein wunderbares Licht.

Was Jesus Christus gesagt und getan hat und was für uns maßgeblich geworden ist, gehört deshalb in das Alltagsgespräch, in die Zeitung, in die Schule. Bis zu einem gewissen Grad finden wir damit sogar Anerkennung und Dankbarkeit in der Bevölkerung: Wenn es um letzte Fragen geht - nach einer Naturkatastrophe, einem Flugzeugabsturz, einem Attentat -, dann sind Notfallseelsorger willkommen, und so mancher praktizierende Atheist findet sich zum stillen Gebet vor dem Altar ein. Aber der Eckstein Jesus Christus, der uns in Krisenzeiten Halt und Trost gibt, kann auch ganz leicht zum Stein des Anstoßes werden - und plötzlich sind Kirche und Glaube gar nicht mehr populär.

Wenn wir neben dem schenkenden Gott auch einen fordernden Gott ins Gespräch bringen, wenn wir außer vom Segen auch vom Gebot sprechen, dann ist diese Botschaft sperrig, weil sie nicht nur Seelenfrieden stiftet, sondern auch Taten des Friedens einfordert: Sozialen Frieden, das Ende von Krieg und Terror in der Welt, Frieden auch mit der Schöpfung.

Der 6. Sonntag nach Trinitatis ist - auch wenn wir dafür in der Gemeinde einen anderen Tag gewählt haben - liturgisch dem Taufgedenken gewidmet, wie an der Lesung (und dem Wochenlied) vermutlich zu merken war.

Wir wollen jedoch nicht nur - so beeindruckend das sein mag - von Wasser und Worten, von Taufkerzen und festlicher Musik erzählen, sondern auch von dieser besonderen Gemeinschaft berichten und zum Ausdruck bringen, was unsere Hoffnung ist. Lasst uns einander von Gottes Taten erzählen und von seinen Verheißungen singen, und lasst uns alle einladen, mit uns zu erleben, was für ein Erbarmen uns Gott erwiesen hat.

Liebe Geschwister, Gott macht es sich und uns nicht leicht: Lebendige Steine - das ist eine wacklige Angelegenheit. Da wird viel häufiger umgebaut als unsere Kirchen restauriert werden müssen. Da regnet es manchmal durch, und es zieht durch etliche Risse und Spalten. Nicht nur unanschaulich, oft auch unansehnlich ist dieser geistliche Tempel, denn Menschen haben nun mal mehr Fehler als ein solides Mauerwerk. Aber eben auf dieses Lebendige kommt es Gott an: So menschlich-unvollkommen, wie wir es zu bezeugen vermögen, will Gott wahrgenommen werden.

Er traut uns zu, denen ein leuchtendes Beispiel zu sein, die in der Finsternis sind, die Gerechtigkeit und Solidarität nur vom Hörensagen kennen - Heilige, Priester eben, die nicht in sich selbst ruhen und sich damit zufrieden geben, von den übrigen bestaunt und verehrt zu werden, sondern weitersagen und weitergeben, was sie zuvor von Gott empfangen haben an Liebe und Güte, Geduld und Vertrauen AMEN.


Stephan Schaar
Gesammelte Materialien für den Gottesdienst