Sehnsucht - nach Gewissheit

Predigt zu Jesaja 35 (2. Advent)


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Von Gudrun Kuhn

Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn. So singt die Altistin im Anfangsteil des Weihnachtsoratoriums. Ein Liebeslied. Zion singt es voll Sehnsucht. Zion, die symbolische Stadt: die Tochter, die Geliebte, die Braut. Eine Figur aus den Gedichten der Bibel. Mit ihr können Lesende eins werden. Sie ist die Verlassene, die Verletzte, die Heimatlose. Sie ist die Gerettete, die Liebende, die Geliebte. Seit Jahrtausenden haben jüdisch und christlich Glaubende ihre eigenen Geschicke und Gefühle in ihr wie­der­fin­den können. Lassen Sie es uns auch heute versuchen.

Immer diese Sehnsucht …

Wie wunderbar die Vorweihnachtszeit in der Kindheit. Wie überwältigend die Gefühle in der Christmette. Wie aufregend das erste Fest als jung Verliebte. Und wie sehnsüchtig unsere Erinnerungen daran. Wie traurig die letzten zwei Jahre mit Liedern hinter der Maske. Wie einsam das Fest im Lockdown. Wie beschädigt unser Glaube. Und wie sehnsüchtig unsere Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Covid.

Immer diese Sehnsucht …

Wie erwartungsvoll die Anfänge: den richtigen Beruf finden, die Zweisamkeit aufbauen, gesellschaftliches Engagement teilen, mit der Familie wachsen. Wie ernüchternd die alltäglichen Enttäuschungen. Ist ein Neuanfang überhaut noch möglich? Wo ist die Liebe geblieben? Lässt sich Krieg und Gewalt und Hass irgendwann überwinden? Was kommt am Lebensende auf mich zu?

Immer diese Sehnsucht …

Eine Sucht, die uns in die Depression führten kann. Besser, sich keine Illusionen zu machen. Bes­ser, kühl und realitätsnah zu bleiben. Besser, sich mit dem Ist-zustand abzufinden. So raten uns manchmal Freundinnen und Freunde, die es gut mit uns meinen. Lass doch dieses ganze Weihnachtsgetue. Nichts als Kitsch und Kommerz und leere Versprechungen. Streif deine Sehnsüchte ab und: Willkommen in der Wirklichkeit. So steht es in den Büchern zur Lebensberatung.

Aber unsere alten Bücher sind anders. In sie eintretend können wir uns ganz einlassen auf unsere Emotionen. Schmerz zulassen. Freude genießen. Wie Liebende im Frühling der Welt und ihrer Gefühle.

8Hör ich da nicht meinen Liebsten?
Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge,
hüpft herbei über die Hügel.
9Mein Liebster gleicht der Gazelle
oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein,
späht durch das Fenstergitter.
10Mein Liebster redet mir zu:
»Schnell, steh auf, meine Freundin,
meine Schöne, komm doch heraus!
11Denn der Winter ist vorüber,
der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
12Blumen sprießen schon aus dem Boden,
die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
13Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.
Die Reben blühn, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin,
meine Schöne, komm doch heraus!

Nein, ich habe diese Zeilen nicht willkürlich herausgesucht. Und nein, ich habe nicht aus Versehen meine letzte Hochzeitspredigt mitgebracht. Diese Verse aus dem Hohelied gehören in die Adventstradition der Kirche. ‚Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn.‘ Unsere vielfältigen Sehnsüchte. Und die Sehnsucht von Liebenden. Immer ist es der Raum zwischen noch nicht und schon bald.

Der Liebste ist noch nicht da, noch jenseits der Berge, aber er wird herkommen. Zu hören ist er schon. Die Liebste ist noch nicht da, noch hinter der Hauswand, aber sie wird he­raus­kom­men. Zu sehen ist sie schon. Sehnsucht füllt die Zeit zwischen noch nicht und schon bald. Und Sehnsucht ist gleichzeitig erfüllt von Gewissheit. Die Zukunft wächst aus der Vergangenheit hervor. Die Liebende weiß, dass der Geliebte alle Widerstände überwinden wird, wie ein junger Hirsch. Der Liebende weiß, dass die Geliebte schön ist und auf ihn wartet. Eine solche Er­war­tung ist keine schillernde Seifenblase. Sie gründet in einem Vertrauen, das schon einmal da war. Was können da Berge, Hauswände und Gitter ausrichten?

Gewissheit und Vertrauen lassen sich nicht in Statistiken und Prognosen ausdrücken. Gewissheit und Vertrauen sind von Zweifeln überschattet. Sie brauchen poetische Zeichen. Da sprießen Blumen aus dem Boden, da duften Reben, da reifen Feigen. Da schlägt die Erde aus. Da bringt die Erde das Blümlein hervor. Da springt der Heiland aus der Erde.

Voll von Frühlingszeichen ist unsere Weihnachtstradition mit ihren Bräuchen und Liedern – bis hin zum Tannenbaum. Es blühen die Maien bei kalter Winterszeit, die liebe Nachtigall wacht auf, und die Rose entspringt aus Dornen und Dürre.

Maria durch ein Dornwald ging
Kyrie eleison
Maria durch ein Dornwald ging
Der hat in sieben Jahrn kein Laub getragn.
Jesus und Maria.

Da haben die Dornen Rosen getragn
Kyrie eleison
Da haben die Dornen Rosen getragn
Als das Kindlein durch den Wald getragn
Jesus und Maria.

Was trug Maria unter ihrem Herzen
Kyrie eleison
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen
Das trug Maria unter ihrem Herzen.
Jesus und Maria.

Jesus – das Kindlein und der Liebste. Wir tun uns manchmal schwer mit der wagemutigen Bild­lichkeit früherer Zeiten. Wir reden meist Klartext. Und blumige Poesie ist uns peinlich. So haben wir es verlernt, Gefühle auszudrücken. Lieber gar nichts sagen als sich lächerlich zu machen. So bleiben wir mit uns und unserer inneren Dürre alleine.

Die Adventszeit will uns da herausholen. Barbarazweige werden aufgestellt in der Hoffnung, dass sie blühen werden. Mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht. Und die ‚Rose von Jericho‘ wird ins Wasser gestellt, die Wüstenblume, die aus monatelanger Dürre wieder zu grünen beginnt. O Erd schlag aus, schlag aus o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd.

Diese Hoffnungszeichen sollen Gewissheit und Vertrauen stärken. Denn der Glaube unserer Vorfahren stellt uns mitten hinein in die Spanne zwischen noch nicht und schon. Wie den Liebenden geht es uns: der kommende Kyrios, auf den wir warten, ist der, der schon da war. Der in die Welt Gekommene muss immer wieder kommen. Berge, Wände und Gitter müssen im­mer wieder neu überwunden werden. Zwiefach die Begegnung der Liebenden. Der Geliebte muss über Hindernisse hinweg­sprin­gen. Und die Geliebte muss aus dem Haus heraustreten. Zwiefach auch unsere Begegnung mit Christus: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, dichtet Johannes. Aber auch: Die ihn aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden. ‚Schnell, steh auf!‘ ruft der Liebende. ‚Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt!‘ ruft der Prophet (Jesaja 60,1).

Was aber tun – verloren hinter Bergen, abgetrennt durch Wände, eingesperrt von Gittern? Der Geliebte nicht zu hören. Die Geliebte nicht zu sehen. Um uns all die Schrecknisse von Krieg und Gewalt. Die Verzweiflung der vielleicht ‚letzten‘ Generation. Die Angst der hilfsbedürftigen Alten. Die Schuldgefühle, die die verhärtete Schale unseres Gewissens durchstoßen.

Wissen wir denn, wie das Hohelied endet. Werden die Liebenden einander finden? Kommt da vielleicht keiner mehr? Öffnet da vielleicht keine mehr die Türe? Hat Gott sich von uns abgewendet? Ist Jesus gottverlassen gestorben?

Risiken der Sehnsucht. Das lange Warten verhärtet uns. Die Berge ragen drohend vor uns auf. Das Haus wird zur Festung und hinter Gitter zieht sich unsere Seele zurück. Was dann?

Dann brauchen wir einander. Dann müssen wir uns gegenseitig aufbauen. Dann hören wir gemeinsam auf die alten Texte. Dann vertrauen wir dem Gesang neben uns. Dann nehmen wir unseren hilflosen Zorn und unsere verzweifelten Klagen ins Gebet. Dann singen wir wider alle Alltagsvernunft die fremd gewordenen und doch vertrauten Worte:

Es ist ein Ros entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht.

Das Prophetenwort vom Spross, der aus dem vertrockneten Wurzelstock hervorbricht, malt unsere Sehnsucht aus. Uns ist ein Kind geboren. Ein Anfang neuen Menschseins, wie es von Gott gewollt ist.

3Er urteilt nicht nach dem Augenschein und entscheidet nicht nach dem Hörensagen.4Er ist gerecht und sorgt dafür, dass die Schwachen zu ihrem Recht kommen.Er ist aufrichtig und trifft Entscheidungen zugunsten der Armen im Land. Sein Wort trifft den Gewalttäter wie ein Stock. Er tötet den Frevler mit einem Hauch, der über seine Lippen kommt.5Gerechtigkeit begleitet ihn wie der Gürtel um seine Hüften, Treue wie ein Band um seinen Leib. (Jesaja 11)

Das Prophetenwort malt unsere Sehnsucht aus von dem, was kommen soll. Und die Worte der Evangelisten und Apostel bekennen ihre Gewissheit über den, der gekom­men ist. Er hat isolierte Kranke berührt und Sorgen von Hungrigen ernst genommen. Er hat verachteten Frauen zugehört und verhasste Geldpächter zur Wiedergutmachung bewegt. Er hat ge­sell­schaft­liches Ansehen gering geachtet und Wahrhaftigkeit vorgelebt. Er war das Ebenbild des lebendigen Gottes. Er hat unser aller Angst vor der Gewalttätigkeit skrupelloser Machthaber über­wunden. Bis in den Tod. Und über den Tod hinaus. Und er hat versprochen, im Geist allen nahe zu sein. Auch den Späteren. Auch uns.

Er soll unsere Sehnsucht und unsere Gewissheit werden und bleiben.

AMEN

LESUNG Jesaja 35 (Basisbibel-Übersetzung)

1Die Wüste und das dürre Land werden fröhlich sein.Die Steppe wird jubeln und blühen wie eine Lilie.2Sie steht in voller Blüte und jubelt, sie jubelt und jauchzt vor Freude. Sie wird so herrlich sein wie der Libanon, so prächtig wie der Karmel und die Scharon-Ebene. Alle werden die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes erblicken.
3Macht die müden Hände wieder stark und die weichen Knie wieder fest.4Sagt denen, die den Mut verloren haben: »Seid stark und habt keine Angst! Seht, das ist euer Gott! Er übt Vergeltung und schafft Recht. Er selbst kommt, um euch zu befreien.«
5Dann gehen den Blinden die Augen auf, und die Ohren der Tauben werden geöffnet. 6Der Gelähmte springt wie ein Hirsch, der Stumme jubelt aus vollem Hals. In der Wüste brechen Quellen auf, und Bäche bewässern die Steppe.7Der glühende Sand wird zu einem Teich, in der Dürre sprudeln frische Wasserquellen. Wo einst die Schakale hausten, wachsen Gras, Schilf und Papyrus.


Gudrun Kuhn