Mobil, sein Leben lang

Zum Tod von Jürgen Reuter


Selfie von Jürgen Reuter im Zug

Ein Nachruf von Jörg Schmidt, von 2006 bis 2014 Generalsekretär des Reformierten Bundes

Es konnte wohl nicht anders sein: dass Jürgen Reuter auf dem Weg zum Bahnhof in Erfurt, seinem letzten Wohnort, die Besinnung verliert, stürzt und wenig später stirbt.

Den Erfurter Bahnhof kannte er sehr gut. Und nicht nur den. Mehr als eine Million Kilometer ist er in seinem Leben mit der Bahn unterwegs gewesen; da ist er in nicht wenigen Bahnhöfen aus- und eingestiegen, zuletzt eben immer wieder in „Erfurt Hbf“. Und alles hat er in seinen Notizbüchern protokolliert, von Jugend an: wann er welchen Zug genommen hat; welche Probleme es gab – davon konnte er im Laufe der Zeit zunehmend notieren … –; was er am Ziel oder an den Zwischenhalten alles gemacht hat. Und in seinem letzten Buch* hat er das (fast) alles auch veröffentlicht.

Viele seine Fahrten unternahm er „im reformierten Auftrag“, so seine Formulierung im Titel seines vorletzten Buches**. Und das war nicht wenig: im Pfarramt in den reformierten Gemeinden Burg und Aschersleben; als Senior des reformierten Kirchenkreises „der KPS“ (Kirchenprovinz Sachsen), wie es damals hieß, bevor die ein Teil der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) wurde; als dessen Vertreter im Moderamen des Reformierten Bundes nach der „Wende“; als Delegierter der Reformierten in der damaligen DDR im Reformierten Weltbund (heute: Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen) und in dessen „Europäischem Gebiet“; als dessen Präsident schließlich.

Dazu all die Familienfahrten in den Urlaub, wenn eben möglich zu dem Teil seiner Familie, der in Westdeutschland wohnte. Und vor allem auch: die Nebenfahrten, die Umwege, die er wählte auf seinen Dienstfahrten. Um – auch um den Preis von Nachtfahrten (das ging damals noch) – hier in einer Kirche besondere Schallgefäße zu notieren oder dort einen interessanten Welschen Giebel zu fotografieren. Wenn es die staatliche Reiseerlaubnis nur eben zuließ, die er bis in die letzten Stunden ausnutzte.

Als ich die Texte zu den Büchern über sein Berufs- und sein Bahnleben gelesen habe, habe ich mich mehr als einmal gefragt: Wie kann das angehen in einem Leben? Wie kann ein Mensch die vielen Begegnungen und Orte verarbeiten? Und wie geht Gemeinde dann auch noch?
Sicher weil seine schon vor etlichen Jahren verstorbene Frau ihn nicht nur in dieser Arbeit unterstützt hat.

Vielleicht auch, weil gilt: Jürgen Reuter ist bei all seinen Reisen, Delegationen, Besuchen in einer eigentümlichen Weise bei sich geblieben. In einer Frömmigkeit, die ihn wenig ins Politische eingebunden hat; in den vielen Notaten über seine Begegnungen mit Bahnhöfen, Landschaften, mit Burgen, Schlössern und Kirchen und auch Personen, die er akribisch aufgeschrieben hat, in denen allerdings fast gar nichts von seinen persönlichen Wahrnehmungen zu finden ist.

Und eben weil er sein Leben lang mobil war, unterwegs – in reformiertem Auftrag – und in welchem anderen auch immer. …

Mobil ist er geblieben auch nach seiner Pensionierung. Sein Engagement – und viele Fahrten! – galt u.a. der Arbeit des Reformierten Bundes: Er hat den Emeriti-Konvent, das Treffen pensionierter Pastorinnen und Pastoren, angeregt, er hat das Archiv des Reformierten Bundes neu organisiert und viel Material integriert, was auf eine Bearbeitung wartete.

Mobil war er dann vor allem bei seinen vielen Fahrten, die er nach wie vor unternommen hat. Und wahrscheinlich war er gerade wieder auf dem Weg zum Erfurter Bahnhof, einfach um loszufahren: zwei, drei, manchmal vier Stunden, wohin auch immer; auszusteigen, einen Blick auf eine Burg, einen Dom zu werfen, kurz ein Museum zu besuchen (mehr war es oft nicht); Mittag zu essen und zurückzufahren. Unterwegs hat er dann Hörbücher gehört, viele Hörbücher, ist manchmal eingeschlafen, einige Male zu weit gefahren deswegen. Aber was soll’s, die BahnCard 100 first, die er sich im Alter gegönnt hat, erlaubte es ja, einfach mit dem nächsten Zug zurückzufahren. Mobil eben, sein Leben lang.

Aber zu dieser letzten Fahrt ist es nicht mehr gekommen. Diesen Zug hat er nicht mehr erreicht. Auf dem Weg zum Bahnhof hat er das Bewusstsein verloren, ist gestürzt. Und dann gestorben, im Alter von 93 Jahren.

Dr. Jutta Noetzel, gegenwärtig Senior des reformierten Kirchenkreises der EKM, hat in ihrem Hinweis auf den Tod von Jürgen Reuter an ein Osterlied von Christian Fürchtegott Gellert erinnert: „Jesus lebt! Ich bin gewiss, nichts soll mich von Jesus scheiden, keine Macht der Finsternis, keine Herrlichkeit, kein Leiden. Seine Treue wanket nicht; dies ist meine Zuversicht.“

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* Eine Million Kilometer. Mein Leben lang mobil mit der Eisenbahn
** Unterwegs im reformierten Auftrag in der DDR und in Europa


Jörg Schmidt