Den Schmerz anderer aushalten

Predigt zu Mk 5,1-20


© Pixabay

Von Sylvia Bukowski

Liebe Gemeinde,

Sie alle kennen viele biblische Geschichten, die von der Heilkraft Jesu erzählen. Diese aber vielleicht nicht. Sie hat etwas unheimliches an sich und auch etwas verrücktes.

Aber ich möchte diese biblische Geschichte heute mit Ihnen erkunden, möchte mich auf der Spur Jesu diesem Menschen nähern, der niemanden an sich herankommen lassen will, möchte das Evangelium, die gute Botschaft auch aus dieser verrückten Geschichte hören.

Markus erzählt sie in einer im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückten Zeit, in einer Zeit, in der die Welt für viele in Israel, auch in Gerasa, völlig aus den Fugen geraten ist. Das römische Militär hatte damals – im sogenannten jüdischen Krieg – den Aufstand der jüdischen Bevölkerung gegen die Besatzung mit äußerster Brutalität niedergeschlagen und ganze Landstriche in Schutt und Asche gelegt. Auch Gerasa war betroffen, obwohl es in einem Gebiet lag, das mehrheitlich von Nichtjuden bewohnt war. Aber anders als in anderen heidnischen Städten hatte man in dieser Stadt nicht mit den römischen Truppen kollaboriert, die jüdischen Nachbarn nicht verraten, sie nicht ausgeliefert. Deshalb ist Gerasa Opfer einer grausamen römischen Strafaktion geworden. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus, der diesen Krieg beschrieben hat, berichtet von vielen geplünderten und zerstörten Häusern. Mehr als 1000 junge jüdische Männer wurden öffentlich abgeschlachtet, die Frauen vergewaltigt und mit ihren Kindern in die Sklaverei verkauft.

Als Markus sein Evangelium schreibt, sind die Gewaltexzesse vorbei. Aber kann es danach einfach wieder „Normalität“ geben? Für manche vielleicht. Für andere hinterlässt das erlebte Grauen lebenslang einen Riss in der Seele, wenn auch nicht immer so offensichtlich wie bei dem Menschen, dem Jesus hier begegnet.

Der haust bei den Grabhöhlen, hält es nicht aus bei den Lebenden, hält es nicht aus bei sich selbst, schlägt sich, verletzt sich, weil er sich nur noch in seinem Schmerz spürt, schreit Tag und Nacht und findet keine Ruhe. Er hat sich die Kleider vom Leib gerissen, weil er sein Leiden nicht mehr verhüllen kann. Man hat versucht, ihn zu bändigen, hat ihn gefesselt, in Ketten gelegt, aber nichts kann ihn festhalten. Diesen Menschen hält nichts und niemand mehr. Der Krieg hat ihm alles genommen, was einmal zu seinem Leben gehört hat, was es bunt und lebenswert gemacht hat. Nun ist er den Toten näher als den Lebenden.

Wir würden heute sagen: Das ist ein psychisch schwerkranker Mensch. Früher hätte man so einen bei uns in eine Irrenanstalt gebracht, wie es damals hieß, hätte ihn ans Bett gefesselt und mit Gewalt ruhig gestellt. Heute geht man, Gott sei dank, behutsamer mit solchen Menschen um, versucht zu ergründen, was ihre Seele so krank macht, und stößt oft auf ein Trauma, eine tiefe Verwundung, entstanden wie bei dem Menschen in Gerasa, durch die Erfahrung maßloser Gewalt.

Ich habe einige schwer traumatisierte Menschen kennengelernt: Ich denke z.B. an eine ehemalige Konfirmandin. Gut aussehend, witzig, früher oft im Mittelpunkt, von vielen Jungs umschwärmt. Und dann, mit 19, von einer Gruppe junger Männer vergewaltigt. Noch Jahre später kann sie nicht aufhören, sich blutig zu ritzen, aber nicht, wie es viele tun, an den Armen. Sie will nicht, dass ihre kleinen Neffen und Nichten es sehen. Deshalb schneidet sie sich tief in ihren Körper. Immer wieder. Immer wieder kommt sie dem Tod nahe. Immer wieder muss sie in die Psychiatrie. Nichts an ihr ist mehr heil.

Ein anderes Beispiel: In Ruanda, wo wir einige Zeit unterrichtet haben, haben viele Überlebende des Genozids von 1994 unbeschreibliche Gewalt gesehen und an sich selbst erlebt. In manchen Augen spiegelt sich bis heute der Schrecken. Die meisten Menschen funktionieren, sie bewältigen den Alltag. Nur ihre Seele bleibt tief verwundet, bleibt zerstört und nachts schreien sie in ihren Albträumen. Das hat auch ein jüdischer Bekannter, der Auschwitz überlebt hat, bis ins hohe Alter getan.

Die Frage liegt nahe: Wie werden die Menschen in den Kriegsgebieten von heute mit ihren Erfahrungen leben? Wie sollen die vielen Kinder dort verkraften, was Kinder nie erleben und Kinderaugen nie sehen sollten? Und auch wenn die Waffen schweigen, wie jetzt in Gaza, auch wenn manche israelischen Geiseln inzwischen frei sind, und sich die Weltöffentlichkeit schnell anderen Krisen zuwendet: Der Schrecken für die Überlebenden der Gewalt ist noch lange nicht vorbei.

Wie tief Gewalt in der Seele nachwirkt zeigt sich an dem Menschen in Gerasa. Er kommt nicht los von seiner Trauer um alles, was er verloren hat. Er verharrt in der Welt der Toten. Findet den Weg nicht zurück ins Leben. Bis ihm Jesus begegnet.

Aber zunächst löst selbst diese Begegnung bei ihm nur Angst aus, die Angst, aufs neue gequält zu werden. Nicht durch körperliche Gewalt - er hat von Jesus gehört und weiß, dass der kein Gewalttäter ist. Aber quälend für jemand wie ihn können auch einfache Fragen sein, ein gutgemeintes Forschen, das das Grauen wieder hochbeschwört, quälend auch der Versuch, ihn mit liebevollem Zwang von den Toten wegzureißen, die ihm näher sind als die Lebenden.

Jesus fragt ihn nur nach seinem Namen. Eine Frage, die diesem vor Schmerz Wahnsinnigen signalisieren soll: Du bist für mich nicht irgendwer, nicht irgendein Verrückter. Für mich bist du ein eigener Mensch, ein Mensch mit einem Namen. Den möchte ich kennen, denn ich möchte dich bei deinem Namen rufen. Aber die Antwort die Jesus bekommt ist: Mein Name ist Legion. Ich bin einer von den vielen, die die römischen Legionen zu namenlosen Opfern gemacht haben. Von unsereins weiß man nur noch die Zahl. 1000, 45.000, 6 Millionen... Mein Name, gehört zu meinem früheren Leben. Mit diesem Leben ist er untergegangen. Und nicht nur ich bin verrückt geworden durch das, was Krieg und Gewalt anrichten. Nicht nur ich bin zerbrochen durch das Leid, das ich gesehen und erlebt habe. Wir sind viele! Jesus, Wir sind viele!

Jesus hört nicht nur den tragischen Identitätsverlust, der aus dieser Antwort spricht. Er hört noch eine andere Stimme. Sie kommt von der Legion derer, die als Dämonen und unreine Geister bezeichnet werden. Das sind Geister, die den Tod lieben und Menschen in seinem Schatten gefangen halten. Sie können Jesus, in dem der Gott des Lebens gegenwärtig ist, nicht in ihrer Nähe aushalten. Sie müssen weg von ihm, weg aus dem Bereich seiner Lebensmacht, sonst verlieren sie ihre Macht, und die möchten sie unbedingt behalten. Sie bitten Jesus, die Schweineherde befallen zu dürfen, die in der Nähe weidet. Und das lässt Jesus zu. Von den unreinen Geistern und Dämonen getrieben stürzen die Schweine in den Tod, und der gequälte Mensch wird frei.

Ich habe in dieser verrückten Szene durch historische Berichte eine verborgene Botschaft entdeckt, die wir heutzutage nicht mehr auf Anhieb verstehen. Denn dazu muss man wissen: Die römischen Legionen, die Truppen, die das Leben so vieler zerstört haben, nicht nur in Gerasa, tragen einen Eber, also ein männliches Schwein auf ihren Standarten. Markus weiß das. Und die Lebensmacht Jesu hat ihn überzeugt: Die tödliche militärische Gewalt auch der stärksten Herrscher wird vergehen. Sie wird sich selbst zum Verhängnis werden. Und die Wunden, die sie den Menschen geschlagen hat und immer noch schlägt, können heilen, die Trauergeister müssen weichen vor dem, der mit Recht Heiland genannt wird, weil er Heil und Leben mit sich bringt.

Nun könnte man denken, mit dem Untergang der Schweine wäre alles gut. Der traumatisierte Mensch kann ins Leben, kann zu den anderen Menschen, zurückkehren. Praise the lord! Aber in der Geschichte kommen am Ende auch Verlierer zu Wort: Das sind Schweinehirten. Sie haben ihre Existenzgrundlage verloren. Die heilsame Veränderung, die Jesus dem gepeinigten Menschen von Gerasa gebracht hat, sorgt bei ihnen für blankes Entsetzen. Und vielleicht will Markus in ihrem Entsetzen das Entsetzen derer vorausspiegeln, die ihre militärische, ihre tödliche Macht verlieren werden, auf die sie so lange gesetzt haben. Sie haben tatsächlich Grund, Jesus zu fürchten. Wenn er die Welt heilmacht, ist ihre Macht endgültig dahin. Und das Geschäft mit dem Tod aufgeben zu müssen, das wird den Profiteuren wehtun. Aber genau auf diese Veränderung zielt die Lebensmacht Jesu, auf eine Welt ohne Gewalt, auf eine Welt, in der Menschen ohne Angst leben können.

Für die Schweinhirten ist Jesu Gegenwart jedenfalls bitter. Kein Wunder, dass sie Jesus bitten, weg zu gehen. Und Jesus folgt ihrer Bitte. Er erzwingt nichts. Er verlässt Gerasa und steigt in sein Boot. Erst da begreift der Geheilte, was das heißt, läuft zu Jesus und bittet ihn, bei ihm bleiben zu dürfen. Aber Jesus lehnt ab. Er hat eine andere Aufgabe für ihn: „Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Wohltat dir der Herr getan und wie er sich deiner erbarmt hat.“ Und das tut der Geheilte. „Er ging hin und fing an in den zehn Städten (die mehrheitlich nicht jüdisch waren) auszurufen, welch große Wohltat ihm Jesus getan hatte.“ Das heißt er wird am Ende zum ersten Heidenapostel, heute würden wir sagen: zum ersten Apostel für Nichtjuden. Ausgerechnet er, den der Krieg und das Leid, das er gesehen hat, in den Wahnsinn getrieben hatte. Bestimmt wird er gerade aus dieser Erfahrung heraus besonders überzeugend erzählen können, aus welcher Qual ihn Jesus befreit hat, wie Jesus die Nähe zu ihm nicht gescheut hat, als er in seinem maßlosen Schmerz und Selbstzerstörung gefangen war. Und er wird das Wunder beschreiben, wie die Lebensmacht Jesu ihn ohne jedes eigene Zutun von den Trauergeistern befreit hat, die ihn im Schatten des Todes festhalten wollten.

Gut, wenn es Menschen gibt, die so etwas selbst erlebt haben und davon erzählen können. Und gut, wenn sie die Gnade ihrer Heilung betonen und nicht in die Falle tappen, aus ihrer Erfahrung ein Rezept zu machen, so nach dem Motto: Wenn du nur fest genug glaubst, wirst du auch frei werden von den Schreckensgeistern, die dich quälen. Das wäre für meine ehemalige Konfirmandin, das wäre für andere schwer traumatisierte Menschen ein Druck, der sie nur weiter in Selbstzweifel und Verzweiflung treiben würde, denn dann läge es ja womöglich an ihnen, dass sie nicht geheilt werden.

Ich verstehe die Botschaft dieser Geschichte anders: Sie zeigt, dass Jesus die Nähe von Menschen nicht scheut, deren Schmerz andere nicht aushalten, dass er sie nicht bedrängt, endlich aufzuhören zu trauern, wie das so viele tun. Jesus ist da, wo es traumatisierte Menschen hintreibt, und sei es bei den Gräbern derer, die sie so schmerzlich vermissen. Jesus lässt sie nicht allein. Und manchmal wirkt seine Lebensmacht auch heute, und sie werden heil, wenn auch sicher nicht sofort, wie in der biblischen Geschichte, eher in einem längeren Prozess. An dem sind Menschen mit fachlichem Können nötig, aber auch Menschen wie wir, mit Geduld zum Zuhören, mit dem Aushalten von Tränen, mit der Bereitschaft einfach Dabeizubleiben. In jedem Fall müssen wir für die Überlebenden von Gewalt beten, Gott drängen, die tiefen Wunden zu heilen, die sie an Leib und Seele an sich tragen. Und beten müssen wir jeden Tag dafür, dass durch Jesu Lebensmacht Krieg und Gewalt endlich ein Ende nehmen, so wie Markus uns zwischen den Zeilen dieser Geschichte hoffen lässt, müssen beten, dass unsere Welt endlich Frieden findet.


Sylvia Bukowski