sich neu erfinden
Ideologisch gehörten American dream und self-made man zuhauf. Was in der alten Welt unmöglich war, weil darüber Stand, Eltern, Erbe, Beziehung entschieden, und wer die nicht hatte, wurde nichts, war in der neuen möglich: aus dem Nichts jemand zu werden, der sich all das selbst erarbeitet. Es waren gerade nicht die Voraussetzungen jenes Grossmauls, who made America great again. Aber es gibt sie, überzeugende Figuren des vorletzten Jahrhunderts, wie es die Karikaturen des letzten gibt, die den längst eingetretenen Zerfall dieses Mythos erzählen. Again ist seither Propaganda.
Geblieben ist davon, nun auch in der alten Welt, die neudeutsche Wendung sich neu erfinden: Nach dem Schicksalsjahr der Pandemie stünden, höre ich täglich, Krethi & Plethi vor der Lebensaufgabe, sich neu zu erfinden. Mir kommt das gleich dreifach falsch vor: Erstens habe ich mich nicht selbst erfunden, dass ich es neuerlich tun könnte. Zweitens folgt neu hier der ökonomischen Logik von Produktion und Konsumption. Und drittens funktionieren Menschen nicht wie Geräte. Richtig ist, dass eine Pandemie viele alt aussehen lässt, wenige ungeschoren davonkommen und der gemeinsame Film nicht laufen wird, wie nach einem Filmriss neu geladen.
Die Zeitung von gestern ist alt, die Autoserie mit Verbrennermotoren, das ausgelatschte Paar Sneakers. Sie werden ersetzt. Neues substituiert Altes. So funktioniert Konsum. Gut so! Menschen funktionieren aber nicht, sondern leben. Biologisch haben mich Eltern gezeugt, theologisch war mein Gott mein Erfinder, beide Male nicht ich! Nichts kann mich so verzehren, dass ich mich an meiner Stelle neu erfinden müsste. Neue Lebensumstände, etwa eine Pandemie, fordern Anverwandlung, nicht Ersatz. Lebenskunst ist die Kunst der Anverwandlung. Nur so entsteht Kultur. Konsum allein ist nie kulturbildend. Weder in der alten Welt noch in der neuen. Again ist kein Wort von Kultur.
MK