Thucydides, De bello Peloponnesiaco latine. Köln 1543

Thvcydidis Atheniensis Historiographi De bello Peloponnensium Athensiensiumq[ue] libri octo. Laurentio Valla interprete: Et nunc a Conrado Heresbachio ad Græcum exemplar diligentißime recogniti. Coloniae 1543 Signatur: Philol. 2° 0016 M

 

Diese Ausgabe der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ des griechischen Historikers Thukydides kann in mehrfacher Hinsicht als eine Kostbarkeit gelten. Denn es handelt sich nicht nur um ein altehrwürdiges Buch, das einen nach wie vor faszinierenden antiken Text enthält. Seine Benutzungsspuren ermöglichen auch, Einblick in die Lesegewohnheiten eines humanistischen Gelehrten der Reformationszeit zu gewinnen.

 

I.     Eine Ausgabe des Thukydides ist schon an sich etwas Bemerkenswertes. Thukydides (ca. 460 – 400 v. Chr.), ein hoher Militär aus Athen, hatte die erste Phase des mörderischen Krieges, der zwischen den     Hauptakteuren Athen und Sparta 431 v. Chr. ausgebrochen war, fast das gesamte Gebiet des östlichen Mittelmeers erfasste und nach fast 30 Jahren in allgemeiner Erschöpfung endete, beobachtet und kühl analysiert. Seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ gilt bis heute als Meisterwerk der Geschichtsschreibung und der Theorie politischer Macht, das noch heute zahlreiche interessierte Leserinnen und Leser findet, nicht allein unter klassischen Philologen und Althistorikern, sondern auch Politologen und Philosophen.

Erstaunlicher Weise ist Thukydides relativ spät in den lateinischen Kulturraum eingezogen. Freilich gab es Ausgaben des griechischen Textes seit 1502 (Venedig, Aldus). Die Johannes a Lasco-Bibliothek besitzt übrigens eine wertvolle Edition, die über den griechischen Text hinaus eine Fülle antiker Materialien zum Leben des Thukydides und Anmerkungen bietet; veranstaltet hat die 1540 in Basel erschienene Ausgabe der bedeutende Philologe Joachim Camerarius (1500–1574), der zum engen Freundeskreis Philipp Melanchthons zählte.

Aber das Griechisch des Thukydides ist nicht eben leicht, so dass eine Übersetzung in das nicht wenigen Spezialisten vorbehaltene Latein dringend erforderlich war. Der große italienische Humanist Lorenzo Valla (um 1405–1457) fertigte im Auftrag von Papst Nicolaus V. die erste lateinische Übersetzung an. Fertiggestellt wurde sie 1452. Aber bis zur Drucklegung vergingen noch mehr als 60 Jahre: Der erste lateinische Thukydides erschien 1513 in Paris unter dem Titel „De bello Peloponnensium Atheniensium libri VIII“. Vallas Übersetzung lag auch dem Text zu Grunde, den unserer Ausgabe bietet, allerdings in einer Bearbeitung durch Conrad Heresbach (1496–1576). Sie erschien zuerst 1527 und danach 1543 in Köln.
 

II

Wahrscheinlich dort in Köln hat die Ausgabe von 1543 derjenige gekauft, aus dessen Besitz unser Band stammt: Petrus Medmann (1507–1584). Der Buchblock ist in einen Ledereinband eingebunden, der mit Prägungen versehen ist, die wiederum teilweise vergoldet sind.

Dieser Thukydides zählt zu den Beständen der Johannes a Lasco-Bibliothek, die aus seiner Sammlung stammen, wie der Besitzvermerk auf dem Titelblatt zeigt: Petrus Medmannus Coloniensis (Petrus Medmann aus Köln) steht mit schwarzer Tinte unterhalb der Titelvignette.

 

Medmann, beheimatet in der stolzen Domstadt am Rhein, neigte spätestens seit einem Studium der Freien Künste an der Wittenberger Universität, wo er insbesondere bei Melanchthon studiert hatte, der protestantischen Sache zu.

In der aufgeheizten Stimmung am Ende der 1540er Jahre bereitete das auch in Köln, das bislang den reformatorischen Anliegen nicht rundweg abgeneigt war, erhebliche Probleme. Die Folge war, dass Medmann 1548 die Stadt verließ, nach Emden übersiedelte, sich dort verheiratete und 1553 zum Bürgermeister gewählt wurde. Offenbar verwaltete er das Amt zur allgemeinen Zufriedenheit, so dass er es bis zu seinem Tode bekleidete – das waren immerhin 31 Jahre. Medmann ist bis heute in Emden kein Unbekannter: Eine Medmannstraße erinnert an ihn, und wer sich in der Emder Geschichte auskennt, der weiß, dass das einst so prächtige Rathaus in der Zeit erbaut wurde, als der gebürtige Kölner dort amtierte. Wann Medmann seinen Thukydides gelesen hat, lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Manches spricht dafür, dass er in den letzten Kölner Jahren und am Anfang seiner Emder Zeit das Buch studiert hat. Sicher ist, dass er es teilweise sehr gründlich las. Denn der Text weist in den ersten Büchern zahlreiche Spuren der Lektüre in Form von Anstreichungen und Randbemerkungen auf, die von seiner Hand stammen.

Einigen von ihnen wollen wir uns nun zuwenden.

 

III.    Auf die Rückseite des Titels hat Medmann ein längeres Zitat aus Ciceros „Briefen an Vertraute“ (Epistulae ad familiares) gesetzt.

Cicero libro 16 ep[isto]larum familiarum, epistola 11

Quo in discrimine versetur salus mea et bonorum omnium atque universae rei publicae, ex eo scire potes, quod domos nostras et patriam ipsam vel diripiendam vel inflammandam reliquimus: in eum locum res deducta est, ut, nisi quis deus vel casus aliquis subvenerit, salvi esse nequeamus. Equidem, ut veni ad urbem, non destiti omnia et sentire et dicere et facere, quae ad concordiam pertinerent; sed mirus invaserat furor non solum improbos, sed etiam hos, qui boni habentur, ut pugnare cuperent me clamante nihil esse bello civili miserius.

Cicero, Briefe an Vertraute XVI, Brief 11 [heute als 12. Brief gezählt]

In welcher Gefahr ich, alle guten Menschen, ja das gesamte Gemeinwesen schweben, magst Du daraus ersehen, dass wir unsere Häuser und sogar das Vaterland verlassen haben, um sie zerstören oder verbrennen zu lassen. Die Sache ist an den Punkt gekommen, dass wir verloren sind, sofern uns nicht ein Gott oder der Zufall zu Hilfe kommt. Ich aber habe, seit ich in die Stadt [Rom] gekommen bin, nicht aufgehört, mit Gedanken, Worten und Werken zur Eintracht beizutragen. Aber eine unbegreifliche Wut hat nicht nur die Schurken ergriffen, sondern auch die, die man für die Guten hielt, so dass sie darauf brennen, zu kämpfen – ich hingegen habe stets eindringlich gewarnt, nichts sei schlimmer als ein Bürgerkrieg. 

Was Cicero hier in der für ihn so charakteristischen Weise schrieb, die eigenen Verdienste ins helle Licht zu rücken, bezog sich auf die Verhältnisse des Jahres 49 v. Chr.: der Konflikt zwischen Iulius Caesar und dem Senat war eskaliert, die überkommene republikanische Verfassung durch Caesars Truppen bedroht, und Cicero sah für sich keine andere Rettung als die Flucht. Medmann dürfte dieses Zitat auf seine eigene Flucht aus Köln bezogen haben.

Auch im Text des Thukydides fand Medmann Parallelen zu den Vorgängen seiner Zeit. So schrieb er auf S. 10 an den Rand:

Bellum germanicum inter Caesarem et principes protestantes 1546.

Deutscher Krieg zwischen dem Kaiser und den protestantischen Fürsten 1546.

Worum ging es hier? Bei Thukydides (I 31) war davon die Rede, dass die Stadt Korinth sich in einem militärischen Konflikt mit Kerkyra befand, letztere eine Seeschlacht zu ihren Gunsten hatten entscheiden können und man sich nunmehr gegenseitig belauerte: die Korinther verstärkten ihre Flotte, die Kerkyraier suchten Verbündete, und beide verfeindeten Städte suchten die Unterstützung Athens zu erlangen. Diese explosive Situation unmittelbar vor dem Ausbruch des großen Krieges warf für Medmann ein Licht auf die Situation des Jahres 1546, als die kaiserliche und die protestantische Seite jeweils Bündnisse geschlossen hatten und die Rüstungen zum Krieg schließlich in große Truppenbewegungen im süddeutschen Raum übergingen. Der Schmalkaldische Krieg hatte begonnen. Man kann vermuten, dass Medmann ahnte, dass das, was im Jahre 1546 geschehen war, erst den Anfang von Auseinandersetzungen darstellte, die während der kommenden Jahre und Jahrzehnte stattfinden würden; Sitte und Menschlichkeit würden, wie schon im Laufe des Peloponnesischen Krieges, auf der Strecke bleiben, roher Gewalt und ungezügeltem Machtstreben anheimfallen.  

In genau diese Richtung weist, was Medmann auf Seite 21 oben über den Text geschrieben hat:

Therentius in Eunucho

Tu quod cavere possis, stultum admittere est.

Consilio omnia prius experiri, quam armis sapientem decet.

Terentius in „Der Eunuch“

Es ist töricht, etwas zuzulassen, was du meiden kannst.

Alles muss zuvor der kluge Mann erwägen, eh' er zu den Waffen greift.

Beide Sprüche stammen aus der Komödie „Der Eunuch“ des römischen Dichters Terenz (um 190 v. Chr. – 158 v. Chr.). Zitate aus seinen Werken waren bereits in der Antike als Sinnsprüche und Lebensweisheiten beliebt. An dieser Stelle im Thukydides (I, 80–85) ergaben sie einen präzisen Sinn. Denn sie stehen über einer Rede, die Archidamos, der besonnene König Spartas hielt, in der er die Spartaner vor einem unüberlegten Kriegseintritt gegen Athen warnte. Was er empfahl, würde man heute als Prinzip der Abschreckung bezeichnen: Dem Gegner in gleicher Stärke entgegentreten, ihn von einem Angriff abhalten oder an der Fortsetzung seiner Politik dadurch hindern, dass man die Entschlossenheit zum Kampf signalisiert, ohne aber im Vertrauen auf die eigene Kampfkraft einen Krieg vom Zaun zu brechen. Die Spartaner, so erzählt Thukydides, hielten sich an diesen Ratschlag nicht. Und auch die protestantischen Für­st­en im Jahre 1546 hatten sich zu einer Art Präventivschlag hinreißen lassen. Der erhoffte militärische Erfolg war ausgeblieben.

Die Rede des Archidamos hat Medmann offenkundig fasziniert; dessen Appell an die spartanische Disziplin und die Mahnungen zu einer nicht von Emotionen geprägten Beurteilung der Lage hat ihn zu zahlreichen Bemerkungen motiviert, die fast den gesamten Rand füllen. Beispielsweise hob er die Warnung hervor, den Gegner durch Verwüstung seines Landes in die Verzweiflung zu treiben, da er dann gar nicht mehr überwältigt werden könne.

Er notierte:

Desperatio facit insuperabiles.

Verzweiflung schafft Unbesiegliche.

Und neben die Warnung, sich wegen Einzelinteressen in einen Krieg ziehen zu lassen, da dessen Ausgang ungewiss sei und man zwar leicht in einen solchen hineinschlittern, aber schwer wieder hinauskommen könne, notiert er:

Cicero pro Marcello. Incertus est exitus et anceps fortuna belli.

Cicero, Rede für Marcellus: „Ungewiss ist der Ausgang und schwankend das Kriegsglück“.

Schließlich schrieb er unten auf die Seite 21 in Anlehnung an den Satz des Archidamos (I 85), es sei nicht gerecht, eine gegnerische Partei anzugreifen, die sich einem Gericht stellen wolle:

Non bellum iis movendum, qui iuris cognitioni sese offerunt.

Man darf nicht mit Krieg überziehen, die sich zur Erkenntnis des Rechts bereitfinden.

Insgesamt hörte Medmann aus der Rede des Archidamos die Stimme der Vernunft und des Augenmaßes; dem König fehlte es weder an Mut, noch an Entschlossenheit, aber er war nicht bereit, sich nur auf Grund von Ruhmsucht und Geschwätz auf ein Abenteuer mit schrecklichen Folgen einzulassen. Leser des Thukydides wissen, dass in der aufgeheizten Stimmung diese Stimme keinen Widerhall gefunden hatte: der Krieg begann und nahm seinen verheerenden Verlauf. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Medmann auf Reden dieser Art und auf die mäßigende Wirkung auf seine Zeitgenossen gehofft hat; wenn er es getan hat, so wäre seine Hoffnung ebenso ins Leere gegangen wie die des Archidamos oder auch des Athener Feldherrn Thukydides – oder des eingangs zitierten Cicero. Vielleicht hat er aber auch an Hand des Ausbruchs des Peloponnesischen Krieges besser verstehen können, warum sich die Konflikte seiner Zeit zwischen Katholiken und Protestanten zu einem Krieg aufschaukelten, obwohl allen Beteiligten hätte klar sein müssen, dass aus ihren guten Absichten sich eine Katastrophe entwickeln werde.     

Medmann markierte freilich nicht nur, was ihm zeitgemäß erschien. Zuweilen verbesserte er Druckfehler; an anderen Stellen notierte er wissenswerte Details. An einer Stelle (I 5) ging Thukydides auf die rauen Sitten der Frühzeit ein und berichtete: „Sie überfielen die nicht ummauerten und dörflich angelegten Städte, um größtenteils daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das gereichte ihnen nicht zur Schande, sondern brachte ihnen vielmehr Ruhm ein.“ Am Rande (S. 4) hielt Medmann fest:

quod illum opus nondum pudori esset, quinimo gloriam quandam afferret.

dass dieses Werk noch nicht zur Schande gereichte, vielmehr einen gewissen Ruhm einbrachte.      

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um einen ersten Eindruck von der Lektüre des Thukydides durch Medmann zu vermitteln. Blicken wir abschließend noch einmal auf das Titelblatt.

 

IV.     Das Titelblatt enthält neben dem Namenszug des Besitzers Medmann noch zwei weitere alte Einträge mit roter Tinte, die vielleicht gar nicht von Medmann selbst, sondern auf einen späteren Besitzer zurückgehen.

Am oberen Rand findet sich der Eintrag:

Proderit adiungere Nicolaum Gerbellium in descriptionem graeciae Sophiani.

Es wäre sinnvoll, Nicolaus Gerbellius, [Sieben Bücher] zur Beschreibung Griechenlands des Sophianus hinzuzufügen.

Gemeint ist die zuerst 1545, dann 1550 in Basel erschienene Beschreibung Griechenlands des spätbyzantinischen Autors Nicolaus Sophianus, die der Gelehrte Nicolaus Gerbel (1485–1560) herausgegeben und kommentiert hatte. Welchen Sinn diese Notiz hatte, muss hier offen gelassen werden.      

Der andere Eintrag, in der Blattmitte oberhalb der Titelvignette angebracht, präsentiert sich wie ein Motto:

Terentius

Inspicere tanquam in speculum vitas hominum / iubeo, atque ex aliis sumere exemplum sibi.

Terenz: Wie in einem Spiegel die Lebensweisen der Menschen anzuschauen und sich an andern ein Beispiel zu nehmen, darin besteht meine Anweisung.

Terenz liefert in seinem Stück „Die Brüder“ einen weiteren Spruch, ein Motto für die Lektüre. Das Werk des Thukydides berichtet für den Leser des 16. Jahrhunderts zwar von einer anderen und vergangenen Welt, aber die andere war keine fremde Welt. Wovon dort die Rede war, war von der eigenen Welt nicht verschieden; Schicksale und Ereignisse der Vergangenheit konnten als Beispiele dienen, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln, sie zeigten Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren, sie zeigten erfolgreiche und erfolglose Strategien, mit ihnen zu Rande zu kommen. Antike Geschichtsschreiber zu lesen bedeutete nicht, sich mit irgendwelchen gefälligen, lebensfernen und deshalb weitgehend bedeutungslosen Bildungsgütern zu beschäftigen, sondern von bereits gemachten Erfahrungen zu lernen und sich so auf einen Beruf vorzubereiten: zum Beispiel den eines Juristen, Diplomaten – oder eben eines Bürgermeisters.    

Dr. Michael Weichenhan

< ZURÜCK ZUR ÜBERSICHT